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Nim Nim war in einem staatlichen Obstgarten gefangen genommen worden. Er war in Brundisium eingesperrt worden. Das war vor mindestens sechs Monaten gewesen. Ich erinnerte mich an das Gelächter der Männer als Nim Nim seinem Rudel entgegengeeilt war. Und ich dachte an die von der Statur her zarten Priesterkönige in ihrem von Tunneln und Gemächern durchzogenen Schlupfwinkel unter dem Sardargebirge. »Bleib von dem Rudel weg!«

Nim Nim schoß wie der Blitz in die Herde hinein.

»Nein!« Es hatte fast den Anschein, als würde er in den Bestien waten. Dann zogen sich die Tiere von ihm zurück und ließen ihn auf einer freien Stelle stehen, die wie ein abgetrennter, einsamer, von einem braungelben Meer eingeschlossener Kreis war, ein Meer mit Augen und Reißzähnen, ein Meer, das vor ihm zurückgewichen war und ihn jetzt umschloß. Ich sah, daß er nicht begriff, was da geschah.

»Komm da heraus!« rief ich ihm zu. »Komm da heraus, solange du noch kannst!«

Augen musterten ihn von allen Seiten. Schmale spitze Schnauzen hoben sich mit bebenden, zuckenden Nüstern.

Nim Nim stieß beruhigende Laute aus. Er pfiff und zischte. Vermutlich verständigten sich die Urtmenschen auf diese Weise untereinander. Vielleicht benutzten die Tiere selbst einige dieser Signale. Die Urts wurden immer aufgeregter. Sie zitterten. Ihr Verhalten war nun von fast fieberhafter Anspannung.

»Komm da raus!« rief ich.

Plötzlich stieß ein Urt ein wütendes, durchdringendes, schrilles, schreckliches Quieken aus. Eine heftige Bewegung schien sich in dem Rudel fortzupflanzen. Man sah es den Tieren deutlich an, ihrem Rücken und dem Fell, der plötzlichen Starrheit, der eine zitternde Unruhe folgte, die das gesamte Rudel, das bis jetzt einen so friedlichen Eindruck erweckt hatte, unvermittelt in einen ruhelosen, brodelnden See bösartiger Energie verwandelte.

»Komm da raus!« schrie ich ihn an.

Das nächste Tier in dem Nim Nim umgebenden Kreis nahm das ohrenbetäubende, wütende Quieken auf, dann ein weiteres und noch eins. Die Urts fingen an, unkontrolliert zu zittern; die Augen quollen ihnen aus den Höhlen; das Fell sträubte sich mit einem Knistern statischer Elektrizität; sie legten die Ohren flach an den Schädel an. Jedes Mitglied des riesenhaften Rudels schien sich jetzt in diese Richtung und auf diesen Laut zu konzentrieren. Einige der Tiere drängten sich der Quelle des Quiekens entgegen, einige kletterten oder sprangen sogar über die Rücken der vor ihnen stehenden Artgenossen. Mittlerweile stieß jedes Urt in dem Kreis um Nim Nim den furchteinflößenden Ruf aus. Dann schloß sich das ganze Rudel an. Der Laut hallte in die Gegend hinaus, prallte gegen die Steine und Felsen des natürlichen Kessels, kehrte als Echo zurück und marterte das Ohr, zerriß die Luft und erweckte den Anschein, als müßte er selbst die Wolken, die scheinbar vor ihm die Flucht ergriffen, den Himmel, vielleicht sogar die ganze Welt zum Erzittern bringen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn man ihn sogar in Brundisium gehört hätte.

Ich legte die Hände an den Mund. »Komm da weg!« schrie ich.

»Ich nicht können!« brüllte Nim Nim.

Da griffen die Tiere an und stürzten sich auf ihn. Er versuchte, ihnen auszuweichen und aus dem Rudel herauszukommen. Ich sah ihn zweimal fallen und jedesmal wieder aufstehen. Als er den Rand des Rudels erreichte, fehlten ihm eine Hand und ein Fuß. Aber er konnte nicht länger stürzen, da sich die Tiere so dicht um ihn herumdrängten. Einige hatten ihm die Zähne in den Körper geschlagen und bissen Stücke heraus. Als er nur noch wenige Meter von mir entfernt war, hatte er die Hälfte seines Gesichts verloren. Sein Kopf rollte wild hin und her. Ich war nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch lebte, bis ich seine Augen sah. Voller Zorn sprang ich ihm entgegen und riß die Urts von ihm fort. Manche packte ich am Nacken, andere an den Hinterbeinen; ich schleuderte sie ins Rudel zurück. Sie stürzten sich weiter auf ihn und schienen mich gar nicht zu bemerken. Ich war mitten unter ihnen. Ich packte ein Urt, stieß die Hände unter die Vorderpfoten, verschränkte die Finger hinter dem Hals und brach ihm das Genick. Ich warf es hinter mich. Andere Urts drängten heran; viele von. ihnen quiekten und versuchten, über ihre Artgenossen zu klettern, um den tödlich verletzten Nim Nim zu erreichen. Da wich ich vor dem Rudel zurück, wobei ich bei jedem Schritt mit den Beinen gegen Urts stieß. Ich sah, wie zwischen den braunen Körpern Stücke von Nim Nim in das Rudel hineingezerrt wurden. Dann stand ich wieder einen Meter vom Rudel entfernt. Ich zitterte am ganzen Körper. Dann erbrach ich mich ins Gras.

Jetzt wußte ich, daß sich die Tiere am Geruch orientierten. Es mußte einen herdenspezifischen Geruch geben. Verströmte ihn jemand, wurde er angenommen. Fehlte der Duft, war man ein Feind und wurde angegriffen. Das schreckliche, schrille und durchdringende Quieken, das auf die anderen Rudelmitglieder eine solche Wirkung gehabt hatte, war vermutlich das Signal, das allen verkündete, daß sich ein Fremder in ihrer Mitte aufhielt. Vermutlich hatte es auch einen unmittelbaren Einfluß auf die allgemeine Reaktion des Rudels; es rief die anderen zum Angriff.

Ich betrachtete die Tiere. Sie waren wieder relativ ruhig. Von Nim Nim war keine Spur mehr zu entdecken.

Ich blickte zu den Männern auf dem Hügel zurück. Sie hatten die Sleen noch immer nicht freigelassen. Vielleicht wollten sie mir noch etwas mehr Zeit lassen, die Sache zu überdenken, Zeit, damit ich mir ausmalen konnte, was mit mir geschehen würde.

Ich sah wieder zu dem Rudel hin. Es hatte mit dem Geruch zu tun, da war ich mir sicher. Das würde erklären, warum ein fremdes Urt, das doch derselben Spezies angehörte, bei dem Versuch, sich dem Rudel anzuschließen, angefallen und getötet wurde. Es würde ebenfalls erklären, warum Nim Nim nicht länger dazu gehört hatte. In den sechs Monaten seiner Gefangenschaft hatte er den Herdengeruch verloren. Die Priesterkönige hatten am Nestgeruch erkannt, wer zum Nest gehörte und wer nicht. Diesen Geruch erwirbt man durch den längeren Aufenthalt im Nest. Genauso verhielt es sich vermutlich bei dem Herdengeruch.

Doch wie war es den Urtmenschen überhaupt gelungen, einen Zugang zum Rudel zu gewinnen? Vor Hunderten von Jahren mußten ein paar kluge Leute die Zusammenhänge erkannt haben. Dann hatten sie herausgefunden, wie man sie zum eigenen Nutzen anwenden konnte. In den nachfolgenden Generationen hatten die Urtmenschen das Geheimnis vermutlich verloren, vielleicht hatten die Entdecker es auch absichtlich im Dunkel der Zeit verschwinden lassen, damit es andere nicht zum eigenen Vorteil nutzen konnten. Heutzutage wuchsen die Kinder der Urtmenschen einfach innerhalb des Rudels auf, in dem Glauben, daß die Dinge unerklärlicherweise – oder vielleicht auch natürlicherweise – seit ewigen Zeiten so waren.

Plötzlich zuckte ich zusammen und eilte zu dem Urt, dem ich das Genick gebrochen hatte. Ich warf den Männern auf dem Hügel einen Blick zu. Sie hatten die Sleen noch nicht losgemacht. Ich brach einen Hauer aus dem Maul des toten Tieres. Dann stieß ich den Zahn in fieberhafter Eile und mit aller Kraft durch das Fellkleid, zerrte und riß, nahm Hände und Zähne zur Hilfe und zog die Haut ab. Vielleicht nahmen die Männer aus Brundisium an, ich hätte den Verstand verloren. Doch es würde bestimmt nicht lange dauern, bis Flaminius mein Vorhaben begriff.

Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter. Die Sleen jagten die grasige Anhöhe herunter.

Ich arbeitete mit fliegenden Händen weiter.

Ich riß die Haut los, fuhr mit der Handkante wie mit einem Messer darunter und löste sie von Organen und Fett. Ich stellte den Fuß auf die Rippen und trat zu, verringerte den ausgeübten Druck und trat wieder zu. Das wiederholte ich etliche Male. Dann drehte ich den Kadaver um und zog das Fell Rippe für Rippe herunter. Der Blick zurück verriet mir, daß es sich nur noch um Ihns handeln konnte, bis mich die Sleen erreicht hätten. Ich sah schon ihre Augen, die darin liegende Gier. Mit einem gewaltigen Ruck riß ich das Fell von dem restlichen Kadaver. Es fehlte die Zeit, den noch daran baumelnden Kopf zu entfernen. Ich packte das Fell mit beiden Händen, schlang es mir um die Hüften und wagte mich ins Rudel.