»Vielleicht hat er ja einen Schlüssel«, sagte jemand.
»Aber er hatte doch gar keine Zeit ihn zu benutzen«, sagte ein anderer Mann verstört.
»Die Schlüssel zu diesen Türen werden in der Stube des Kapitäns der Wache aufbewahrt«, sagte ein anderer Mann, offensichtlich ein Soldat.
»Überprüft sofort alle Schlüssel«, befahl Belnar. »Wir werden sehen, welcher Schlüssel fehlt. Und genau durch diese Tür wird er geflohen sein.«
»Wir haben den Saal doch nur einen Augenblick nach ihm verlassen«, sagte ein Mann unbehaglich.
»Ich glaube nicht, daß er Zeit genug hatte, eine dieser Türen zu erreichen.«
»Und wenn er sie doch erreicht hätte, wäre ihm nicht genug Zeit geblieben, sie auf zuschließen.«
»Vielleicht war die Tür ja offen«, meinte jemand. »Vielleicht hat er sie ja vorher geöffnet.«
»Und dann hat er sie von der anderen Seite aus zugeschlossen.«
»Ich glaube nicht, daß er Zeit genug hatte, eine dieser Türen zu erreichen«, wiederholte der Mann, der das schon vorher gesagt hatte.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Mann unbehaglich.
»Narren!« rief Belnar. »Laßt die Wachen an beiden Enden des Korridors Rapport erstatten. Vielleicht haben sie ihn ja längst in ihrer Gewalt!«
Ich hörte Schritte, die sich in beide Richtungen entfernten.
»Da kommt der Wachoffizier«, sagte ein Mann.
»Borto ist bei ihm.«
»Ubar!«
»Welche zu diesem Korridor gehörenden Schlüssel fehlen? Schnell!« sagte Belnar.
»Keine, Ubar«, sagte der Neuankömmling. »Es fehlen keine Schlüssel. Weder von diesem Korridor noch von einem anderen.«
Diese Verkündigung wurde mit Schweigen aufgenommen.
»Ubar«, rief ein Mann, »wir haben den Bericht von den Wachen im Westen. Es ist niemand an ihnen vorbeigekommen.«
»Na also«, sagte Belnar zufrieden. »Die Sache ist erledigt. Die Ostwachen werden ihn gefangengenommen haben.«
»Da kommt Elron«, sagte ein Mann. »Er war bei den Ostwachen.«
»Bosk ist in ihrem Gewahrsam«, sagte Belnar.
»Ubar!«
»Sprich«, sagte Belnar. »Hatte man Mühe, den Kerl zu überwältigen?«
»Ubar?«
»Du kommst doch von den Ostwachen, oder nicht?« verlangte Belnar zu wissen.
»Ja, Ubar. Aber sie haben den Mann nicht gesehen!«
»Was?« brüllte Belnar.
»Er ist nicht an ihnen vorbeigekommen.«
»Unmöglich«, sagte Belnar.
»Es stimmt, Ubar.«
»Er muß an ihnen vorbeigekommen sein«, sagte ein anderer Mann.
»Nein«, erwiderte Elron.
»Er muß es aber«, beharrte der Mann.
»Das ist sehr ungewöhnlich«, sagte ein anderer Mann. »Der Korridor ist schmal. Dort stehen fünf Wächter.«
»Er hätte sowieso nicht die Zeit gehabt, bis dorthin zu kommen«, meldete sich der nächste Mann zu Wort. »Wir waren ihm dicht auf den Fersen.«
Wieder kehrte Schweigen ein.
»Er muß hier irgendwo stecken.«
»Aber er ist nicht in diesem Korridor«, erhielt der Sprecher zur Antwort. »Wir haben ihn genau durchsucht. Du siehst doch, daß er leer ist.«
»Wo kann er nur sein?«
»Wo steckt er?«
»Das gefällt mir nicht.«
»Er ist weg. Einfach weg!«
»Er ist verschwunden!« flüsterte jemand.
»Ubar«, meldete sich Flaminius zu Wort. »Die Alarmstangen werden noch immer geschlagen. Ich schlage vor, daß wir unsere Aufmerksamkeit ernsteren Angelegenheiten als der Gefangennahme eines flüchtigen Briganten zuwenden.«
»Ich will, daß er gefunden wird!« brüllte Belnar. »Durchsucht den Palast! Findet ihn!«
»Ja, Ubar«, riefen die Soldaten und liefen los.
»Ubar!« protestierte Flaminius.
»Benachrichtige die zuständigen Offiziere der Wache und des Heeres!« rief Belnar. »Gib die Befehle heraus! Sie sollen für Sicherheit auf den Straßen sorgen, die Stadttore bewachen und nach entflohenen Gefangenen suchen!«
»Sicherlich willst du das Kommando höchstpersönlich übernehmen«, sagte Flaminius.
»Ich muß mich um andere Angelegenheiten kümmern.«
»Dann werde ich mit deiner Erlaubnis das Kommando übernehmen«, sagte Flaminius. »Keine Angst. Ich werde in kürzester Zeit für Ordnung gesorgt haben.«
»Du wirst genau das tun, was ich dir befohlen habe«,
sagte Belnar. »Und zwar nur das.«
»Ubar?« fragte Flaminius.
»Du wirst die Dinge schnell organisieren«, fauchte
Belnar. »Du wirst die Oberaufsicht dem Stadtkapitän übertragen und dich danach den Suchtrupps nach Bosk aus Port Kar anschließen. Ich will, daß jeder, der ihn identifizieren kann, ob Wächter, Mann oder Frau, freier Mann oder Sklavin, sich an der Suche beteiligt!«
»Ist er so wichtig, Ubar?« fragte Flaminius. »Ubar?« rief er. Vermutlich war Belnar gegangen und hatte sein Gefolge mitgenommen.
Einen Augenblick später erklangen wieder Schritte; Flaminius rief nach seinen Untergebenen, und seine Stimme wurde dabei leiser.
»Wohin könnte Bosk geflohen sein?« fragte ein Mann.
»Das gefällt mir nicht, das gefällt mir kein bißchen«, sagte ein anderer.
»Er ist einfach verschwunden«, flüsterte ein dritter furchtsam. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Das hätte ihm bestimmt einen ordentlichen Schrecken versetzt.
»Laß uns gehen«, sagte die erste Stimme.
»Du hast recht.« Auch ihre Schritte entfernten sich.
Die Illusion hatte natürlich sorgfältig in Szene gesetzt werden müssen. Die Position der Spiegel mußte nach genauen Berechnungen erfolgen. Das angewandte Prinzip besteht darin, daß Dinge so reflektiert werden, daß der Betrachter veranlaßt wird, das Gesehene falsch zu deuten; so hält er zum Beispiel das Spiegelbild eines bestimmten Ortes für einen anderen Ort. Er rechnet nicht mit Spiegeln und denkt auch nicht daran, und selbst wenn das doch der Fall sein sollte und er das damit verbundene Prinzip versteht, wird er trotzdem genau das sehen, was der Illusionskünstler will. Auf diese Weise kann sich nicht nur der unwissende Betrachter an solchen Illusionen erfreuen, sondern auch der kritische, gebildete Betrachter; selbst andere Illusionskünstler haben ihr Vergnügen daran, wenn die Nummer mit der nötigen Kunstfertigkeit ausgeführt wird.
Im Palast von Brundisium war niemand auch nur auf die Idee gekommen, mit einem solchen Trick zu rechnen, und genau darauf hatte ich mich verlassen. Wäre ihnen der Verdacht gekommen, hätten sie schnell die Wahrheit herausgefunden; sie hätten nur die Korridorwände einer genauen Untersuchung unterziehen müssen. Aber bis jemand an meine Verbindung zur Truppe von Boots Tarskstück dachte und darauf kam, daß ein so geschicktes Zauberkunststück nicht nur möglich, sondern in Anbetracht der seltsamen Umstände meines Verschwindens sogar wahrscheinlich war, wäre ich nicht länger in meinem bizarren Versteck geblieben.
Ich stand natürlich hinter einem Spiegel, das heißt, am Schnittpunkt zweier Spiegel, und zwar in einer der Nischen. Die Ränder der beiden Spiegel wurden von einer freistehenden Säule verdeckt, die dort zur Dekoration stand und an der man Pflanzen aufhängen konnte. Dank Boots stand die Säule jetzt ein Stück näher an der Nische. Für den zufälligen Betrachter war das Spiegelbild der gegenüberliegenden Wände eine einzelne feste Wand, die sich hinter der Säule erstreckte. Das Zurücksetzen der Säule, die Verbindung der beiden dahinter befindlichen Spiegel und der dadurch entstandene Winkel machten es dem Betrachter unmöglich, sein eigenes Spiegelbild zu sehen; es sei denn natürlich, er hätte die Nische betreten.
Der Korridor schien mittlerweile verlassen zu sein. In der Ferne war Gebrüll zu hören. Ich schlüpfte aus dem Gewand. Die Suchmannschaften würden vermutlich nach einem Mann im gelbweißen Kaufmannsgewand suchen, das nach turianischer Mode geschnitten war. Darunter trug ich eine Uniform, die der eines brundisischen Soldaten stark ähnelte. Ich hielt es für ziemlich unwahrscheinlich, daß man mich in einer Stadt von der Größe Brundisiums, in einer Stunde des Aufruhrs und der Verwirrung, in der überall Soldaten umhereilten, Befehle gaben und erhielten, in der Agenten in Uniform und in Zivilkleidern ihrer Aufgabe nachgingen, so ohne weiteres erkennen würde. Außerdem hatte ich den Eindruck gewonnen, daß viele der Höflinge, die mich in dem Saal gesehen hatten – Männer, die nicht gerade für ihren Mut bekannt sind – der Versuchung widerstehen würden, begeistert an einer Suche teilzunehmen, die nicht ohne Gefahr war. Sie würden sicherlich zu dem Schluß kommen, daß es vermutlich besser war, wenn sie sich in ihren Gemächern tapfer in Reserve hielten, sich auf den Augenblick vorbereiteten, an dem ihr Ubar sie wirklich brauchte. In der Zwischenzeit würden sie sich natürlich auf dem laufenden halten. Ich bereitete mich darauf vor, den Korridor zu betreten. Mit etwas Glück würde ich sogar ein paar Soldaten um mich scharen und meine eigene Suchmannschaft gründen können. Das schien eine gute Möglichkeit zu sein, sich an fast jeden Ort begeben zu können. Wer konnte schon wissen, wo sich der Schurke Bosk aus Port Kar verbarg?