»Hör auf!«, schrie sie. »Du hättest mich beinahe verletzt!«
Er schien sie gar nicht zu hören. Mit zusammengekniffenen Augen kam er auf sie zu, seine Lippen ein schmaler Strich.
Vivana hielt Ruac fest, kroch rückwärts und versuchte gleichzeitig, sich aufzurichten. Plötzlich bemerkte sie einen Schemen, der sich ihrem Vater von hinten näherte.
»Schlaf.«
Der Erfinder sank zu Boden und fing sofort an zu schnarchen.
Vivana blickte erst ihn an, dann Lucien. Sie brachte kein Wort heraus.
Ruac entwand sich ihren Händen, sprang zu Boden und schnüffelte an ihrem Vater, als wolle er sich davon überzeugen, dass keine Gefahr mehr von ihm ausging. Vivana war, als erwache sie aus einer Trance.
»Was ist bloß in ihn gefahren?«
»Das Böse, das durch das Tor sickert«, sagte Lucien. »Es hat seinen Verstand vergiftet. Das geschieht leicht, wenn man nicht aufpasst.«
Vivana untersuchte ihren Vater, vermied es jedoch, ihn zu berühren. Er atmete gleichmäßig und schien sich bei seinem Sturz nicht verletzt zu haben. »Wird es wieder weggehen?«
»Mit etwas Glück verflüchtigt sich die böse Energie nach ein paar Stunden. Aber wenn wir Pech haben, setzt sie sich in seiner Seele fest. Es hängt ganz davon ab, wie empfänglich dein Vater dafür ist.«
Sie musterte den Schlafenden. Ihr Vater besaß ein verbittertes Wesen und neigte zu Pessimismus und Jähzorn. Keine guten Voraussetzungen, dachte sie und unterdrückte ein Schaudern.
»Wie geht es dir?«, fragte Lucien.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Es macht dir zu schaffen, richtig? Jeder reagiert anders darauf. Manche werden aggressiv, andere verfallen in Melancholie. Am besten ruhst du dich aus, während dein Vater schläft.«
»Dir scheint es nicht viel auszumachen«, stellte Vivana fest.
»Ich bin ein Schattenwesen. Wir bestehen aus Magie und haben keine Seele, wo sich das Böse einnisten könnte. Zumindest keine wie ihr.«
Vivana beobachtete Ruac, der neugierig über das Felsplateau watschelte. Offenbar war der Tatzelwurm – ebenfalls ein Schattenwesen – genau wie Lucien unempfindlich gegen den Einfluss der bösen Energien, die durch das Tor flossen und als stinkende Rinnsale den Abhang hinabströmten.
Sie half dem Alb, ihr verstreutes Gepäck einzusammeln und zwischen den Felszacken ein Lager herzurichten. Allerdings war sie so erschöpft, dass Lucien darauf bestand, sie solle die Arbeit ihm überlassen. Er fütterte Ruac und gab ihr den Wasserschlauch und etwas Brot, damit sie sich stärken konnte.
Vivana setzte sich zu ihrem Vater, dem Lucien eine Decke unter den Kopf geschoben hatte. Er schlief tief und fest. Hin und wieder zuckte ein Muskel in seinem Gesicht, sein Kiefer mahlte, oder er gab ein leises Stöhnen von sich. Er schien gegen das Böse anzukämpfen, das Besitz von ihm ergriffen hatte. Vivana betete, dass er den Kampf gewinnen würde.
Sie zog die Knie an die Brust. Während sie lustlos an dem Brotstück knabberte, betrachtete sie die bizarre Landschaft, die sich vor ihr ausbreitete.
Es war ein trostloser und beklemmender Anblick. Felskämme ragten wild und scharfkantig empor, groteske Formen bildend; der Wind trieb roten Staub über die zerklüfteten Hügel. Schluchten und Schründe durchschnitten Ebenen und Täler, in manchen strömten schwarze Flüsse dahin. Und über allem lag ein seltsamer gelblicher Dunst, der sich in der Ferne zu einem trüben Schleier verdichtete, sodass Vivana höchstens eine oder zwei Meilen weit blicken konnte.
Es herrschte eine matte Helligkeit, obwohl nirgendwo eine Sonne zu sehen war. Schlieren durchzogen den rot glühenden Himmel und bildeten lavaähnliche Wirbel, die sich mit der Zeit langsam veränderten. Es gab keine Wolken, keine Sterne, keinen Mond.
Manchmal, wenn sich der Dunst für einen Moment lichtete, konnte Vivana Bauwerke erkennen, riesige Ruinen von einer fremdartigen Architektur. Die zyklopischen Mauern und Türme, geschaffen aus schwarzen Steinblöcken, wiesen gezackte Fenster und gähnende Löcher auf und wirkten wie seit Ewigkeiten verlassen. Geflügelte Wesen kreisten um steinerne Bögen und Vorsprünge.
Am seltsamsten jedoch war der Wall aus Licht. Er glühte golden und verlor sich in der dunstigen Ferne. Es war schwer zu sagen, wo er endete und der Himmel begann, so hoch ragte er auf.
Die gleißende Mauer verlief über den Hügel, auf dem Vivana und ihre Gefährten rasteten. Was sich dahinter befand, konnte sie nicht erkennen, denn die Barriere war undurchsichtig; außerdem konnte man das Licht nicht lange anschauen, ohne dass es einen blendete. Das Tor befand sich an der höchsten Stelle der Felskuppe und glich einem dunklen Fleck in der ansonsten makellosen Helligkeit. Auf dieser Seite hatte es keinerlei Ähnlichkeit mit der fleischigen Membran, sondern sah aus wie ein langsam wirbelnder Strudel.
Vivana fröstelte im kalten Wind, der um die Felsen pfiff. Sie spürte, dass alles unter dem roten Himmel vom Bösen durchdrungen war, jeder Stein, jedes Staubkorn, sogar die stinkende Luft. Das Pandæmonium war noch menschenfeindlicher, als sie sich vorgestellt hatte. Wie nur sollte Liam hier überleben?
Sie zog ihre Jacke an und deckte ihren Vater zu. Lucien setzte sich zu ihr, zündete die magische Kerze an und steckte sie zwischen zwei Steine, in einer Mulde, damit sie nicht vom Wind ausgeblasen wurde. Ihr Licht war viel heller als das einer gewöhnlichen Kerze und floss warm über die Felsen.
»Wieso hast du sie angezündet?«
»Schau mal da unten.«
Am Fuß des Hügels verlief eine Straße – oder das, was davon übrig war: ein paar zersplitterte Steinplatten, die im Staub versanken. Daneben hielten sich mehrere Gestalten auf. Sie waren höchst unterschiedlich gekleidet: Die meisten trugen Gehröcke oder Gewänder wie in Bradost, einige jedoch Wämser, Roben und eiserne Rüstungen aus längst vergangenen Epochen oder Kleidungsstücke und Kopfbedeckungen aus fernen Ländern. Als sie sich bewegten, sah Vivana, dass sie durchsichtig waren.
»Geister!«
»Totenseelen, um genau zu sein.«
»Haben sie uns gesehen?«
»Ich glaube schon«, sagte Lucien. »Aber sie sind so in ihrem Leid gefangen, dass es eine Weile dauern kann, bis sie richtig auf uns aufmerksam werden.«
»Sind sie gefährlich?«
»Sehr. Sie hassen alles Lebende. Doch das Licht wird sie verjagen.«
Plötzlich kam Bewegung in die geisterhafte Schar. Die Gestalten marschierten – oder schwebten – die Hügelflanke hinauf.
»Sitzen bleiben«, murmelte Lucien, als er Vivanas Unruhe bemerkte. »Entferne dich auf keinen Fall vom Licht.«
Die Totenseelen strömten auf das Lager zu, eine nebelhaft schimmernde Masse aus einander überlagernden Leibern. Ihre Gesichter waren ausgemergelte Fratzen der Qual und des Hasses, aber sie schienen stumm zu sein, denn sie gaben nicht das leiseste Geräusch von sich. Der Anblick war so Furcht erregend, dass Vivana all ihren Mut aufbringen musste, um nicht davonzulaufen. Sie presste Ruac an sich, der vor Schreck erstarrt war.
Als das erste Geistwesen in die Nähe des Kerzenscheins geriet, riss es die Augen auf und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Anschließend ergriff es die Flucht. Die Übrigen erkannten die Gefahr und verharrten in sicherem Abstand zum Lager. Sie machten Drohgebärden, ihre Lippen formten stumme Flüche.
Vivana wagte kaum zu atmen. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie.
»Gar nichts. Mit der Zeit verlieren sie das Interesse an uns. Wenn sie uns vergessen haben, sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden.«
Genauso kam es. Nach und nach zogen sich immer mehr Seelen zurück, bis nach etwa einer Stunde die letzten verschwunden waren. Vivana sah, dass sie zur Straße zurückgekehrt waren oder ziellos über die Ebene schlurften, bis der allgegenwärtige Dunst sie verschlang.