Lucien löschte die Kerze. Er verlor kein Wort darüber, aber ihr war nicht entgangen, dass der Talgstummel um ein Viertel heruntergebrannt war. Lange würde die Kerze also nicht halten. Wenn sie aufgebraucht war – was dann?
Kurz darauf erwachte ihr Vater. Vivana spannte ihren Körper an, als er sich mit verkniffener Miene aufsetzte. »Was ist passiert?«, fragte er krächzend.
»Du wolltest Ruac umbringen. Lucien musste dich betäuben.«
Sein Blick fand den Alb. Vivana rechnete mit einem erneuten Zornesausbruch, doch der Erfinder wirkte eher zerknirscht als wütend. »Das wollte ich nicht. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist...«
»Die böse Energie war daran schuld. Du kannst nichts dafür.«
Er rieb sich den schmerzenden Hinterkopf, argwöhnisch beäugt von Ruac, der auf Vivanas Schoß saß. »Ich habe dir doch nichts getan, oder?«
»Nein. Ist jetzt wieder alles in Ordnung?«
Zu ihrer Erleichterung nickte er. »Danke«, sagte er widerwillig zu Lucien.
Der Alb reichte ihm wortlos den Wasserschlauch. Gerade als ihr Vater daraus trinken wollte, schien ihm klar zu werden, wo er sich befand. Er stand auf und schaute sich schweigend um. Sein Blick wanderte über die Felskämme, den tanzenden Staub, die seltsamen Ruinen und blieb schließlich an der Mauer aus Licht hängen. »Was ist das?«
»Der Grenzwall des Pandæmoniums«, erklärte Lucien.
Der Erfinder kletterte über das verstreute Geröll, bis er nur noch einen Schritt von der himmelhohen Wand entfernt war. Er kniff die Augen zusammen und hob die Hand, wagte jedoch nicht, das Licht zu berühren. »Woraus besteht er?«
»Aus Güte, Demut, Selbstlosigkeit, heißt es in den alten Legenden. Den kollektiven guten Kräften der Menschheit.«
Vivanas Vater wandte sich mit gerunzelter Stirn zu ihnen um. »Nimmst du mich auf den Arm?«
»Dieser Ort ist nichts anderes als ein Gefängnis«, fuhr Lucien fort. »Der Wall hindert die Dämonen daran, ins Diesseits einzudringen.«
»Ammenmärchen. Es muss eine vernünftige Erklärung für all das geben.« Der Erfinder begann, die Lichtmauer abzuschreiten und eingehend zu untersuchen.
Vivana seufzte. Kein Zweifel, er war wieder ganz der Alte.
Ihr ging es allmählich besser. Nun, da die Wirkung der bösen Energien nachließ, hellte sich ihre Stimmung auf. Doch kaum dachte sie an Liam, überkam sie abermals Niedergeschlagenheit. Sie stand auf und blickte über das Ödland. Es schien endlos zu sein, so weit sie das bei all dem Dunst, Rauch und Staub beurteilen konnte. Und sie hatte nicht den kleinsten Anhaltspunkt, wo er sein könnte. »Wie um alles in der Welt sollen wir Liam finden?«, fragte sie Lucien.
»Indem wir uns wie vernünftige Reisende verhalten und nach dem Weg fragen.«
»Was?«
»Pack deine Sachen«, sagte der Alb. »Es wird Zeit, dass wir aufbrechen.«
Nachdem sie die Decken und ihre übrige Ausrüstung verstaut hatten, machten sie sich auf den Weg. Ein Pfad schlängelte sich den Hügel hinunter; alle zwanzig oder dreißig Schritt waren Stufen in den Fels geschlagen worden. Die Seelenschar hatte sich zerstreut und war nicht mehr zu sehen. Nur noch zwei Geistwesen hielten sich in der Nähe auf, eine Frau in einem altmodischen Kleid und ein dunkelhäutiger Mann mit weißen Tüchern vor dem Gesicht, die lediglich einen Spalt für die Augen freiließen. Lucien führte sie in einem weiten Bogen an den beiden Gestalten vorbei.
Sie marschierten an einer Erdspalte entlang, in der böse Energie floss: ein dünner, stinkender Bach, der in dieselbe Richtung strömte, in die sie gingen. Lucien achtete darauf, dass sie stets im Schutz der Felsen blieben, die sie vor unwillkommenen Blicken verbargen.
»Sieht so aus, als wäre ich nun dein Vergil, was?«, sagte er nach einer Weile zu Vivana.
»Vergil? Wer ist das?« »Oh. Richtig. In deiner Welt gibt es das Buch ja gar nicht. Was übrigens sehr betrüblich ist. Jeder sollte es mal gelesen haben. Wenn du willst, leihe ich es dir bei Gelegenheit. Ich müsste irgendwo noch ein Exemplar haben.«
»In meiner Welt?«, fragte sie verwirrt. »Wovon redest du?«
»Vergiss es.« Lucien blieb plötzlich stehen. »Köpfe runter. Wir sind da.«
Der Weg hatte zu einer Anhöhe hinaufgeführt, die wenige Schritte vor ihnen senkrecht abbrach. Unterhalb der kleinen Felswand befand sich eine schrundige Mulde, in der sich die Substanz aus der Erdspalte sammelte und einen öligen Tümpel bildete. Daneben erstreckte sich eine von Geröll übersäte Ebene, mit zahlreichen Löchern im Boden. Manche glühten, aus anderen quoll Rauch.
Vivana und ihr Vater befolgten Luciens Anweisung und gingen hinter einigen vom Wind abgeschliffenen Steinbrocken in Deckung.
»Was tun wir hier?«, fragte sie leise.
»Warten.«
Der Alb lehnte sich gegen einen Felsen, holte das Brandeisen aus seinem Rucksack und strich mit Zeige- und Mittelfinger über die Schriftzeichen auf dem rußschwarzen Metall.
7
Das Rattennest
Ich hätte nicht herkommen dürfen, dachte Umbra, als sie aus den Schatten der Gasse trat.
Das Rattennest hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Genau wie früher wimmelte es auf dem Platz von fliegenden Händlern und Schlammtauchern, die allerlei Plunder anboten, von Krüppeln, Halsabschneidern und halb nackten Huren, die potenziellen Kunden derbe Offerten zuriefen. Schmieriger Rauch stieg von den Müllfeuern auf; es stank nach Unrat, Exkrementen und dem brutzelnden Fett der Garküchen. Unzählige Durchgänge, Passagen und Treppenfluchten befanden sich zwischen den heruntergekommenen Stadthäusern. Sie führten zu dem Gewirr aus tunnelähnlichen und teilweise unterirdischen Gassen, dem das Viertel im Norden der Grambeuge seinen Namen verdankte.
Ein halbes Dutzend Gebäude mit vergitterten Toren und wuchtigen Mauern beherrschte den Platz: ehemalige Sklavenpferche und -märkte. Nach dem Verbot von Menschenhandel in der frühen Republik hatten sich die Unterweltclans von Bradost darin eingenistet, denn die wehrhaften Bauwerke ließen sich leicht verteidigen und standen in einer Gegend, die von der Obrigkeit gemieden wurde. Allerdings war die Macht der großen Einbrecher- und Hehlerbanden seit vielen Jahren am Schwinden. Soweit Umbra wusste, lebten nur noch zwei der alten Familien hier, und ihr Einfluss reichte obendrein kaum über die Grambeuge hinaus. Das Rattennest gehörte nun Abschaum wie Asher und anderen Lumpenhändlern, die die alten Sklavenhallen in Paläste aus Müll und Schrott verwandelt hatten.
Umbra überquerte den Platz mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, denn es war nicht ausgeschlossen, dass jemand sie erkannte. Nicht, dass sie vor all diesen finsteren und abgerissenen Kreaturen Angst gehabt hätte – in der Abenddämmerung waren ihre Kräfte so stark, dass ein gewöhnlicher Dieb oder Messerstecher ihr kaum etwas anhaben konnte. Aber sie wollte Ärger vermeiden und diesen unangenehmen Auftrag so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Unzählige Erinnerungen stürzten auf sie ein, wachgerufen von den vertrauten Gerüchen und Geräuschen. Der Kerl mit dem Bauchladen dort an der Ecke hatte schon da gestanden, als sie noch ein Kind gewesen war – er verkaufte Zigaretten und Zündhölzer. Die Spelunke gegenüber gehörte einem ehemaligen Söldner namens Hodge. Er hatte unter der Hand Schießpulver verkauft, bis die Warwicks, die den Waffenhandel kontrollierten, ihm ein Auge ausstachen. Da drüben, vor dem Kettentor, hatte Umbra ihren ersten Kampf bestanden. Sie war vierzehn gewesen und hatte Drogo Brock, der ihr eine Lektion erteilen wollte, zwei Zähne ausgeschlagen und ihm sein eigenes Messer in den Arm gestoßen. Als ihre Leute davon erfuhren, hatten sie Umbras Sieg über einen verhassten Brock die ganze Nacht gefeiert. Sie hatte sich wie die künftige Königin der Grambeuge gefühlt.