An all diese Dinge erinnerte sie sich, als wären sie erst gestern geschehen. Dabei hatte sie vier Jahre lang versucht, sie zu vergessen.
Sie fluchte leise. Sie hätte darauf bestehen müssen, dass Corvas sich um diese Sache kümmerte. Aber diese Erkenntnis kam nun leider zu spät. Sie musste zusehen, dass sie irgendwie damit fertigwurde.
Jetzt sei nicht kindisch. Es sind nur Erinnerungen. Konzentrier dich einfach auf deinen Auftrag, und vergiss alles andere.
Vergiss vor allem das Hotel.
Mit diesem Vorsatz im Kopf bahnte sich Umbra einen Weg durch das Menschengewimmel. Doch kaum hatte sie das Gedränge an den Ständen hinter sich gelassen, verspürte sie den übermächtigen Drang, stehen zu bleiben und zu der Ruine an der Nordseite des Platzes zu schauen, beinahe so, als hätte sie eine entzündete Stelle im Mund und könnte nicht aufhören, sie mit der Zunge zu berühren, obwohl es höllisch wehtat.
Viel war nicht mehr übrig von dem einst so imposanten Anwesen. Ein Flügel war eingestürzt; aus den Trümmern ragten Balken, von Feuer geschwärzt. Schutt türmte sich in den Eingängen und Torwegen. Im Hof wucherten Unkraut, Brennnesseln und dorniges Gestrüpp. Die Scheiben waren gesplittert, Ruß umrahmte die Fensteröffnungen. Am schlimmsten hatte das Feuer im Dachstuhl gewütet: Die Kupferabdeckung war geschmolzen, das verbrannte Gebälk glich einem Gerippe.
Niemand schien sich in dem Gemäuer aufzuhalten, nicht einmal Bettler und Aussätzige, vor denen normalerweise kein verlassenes Gebäude sicher war. Vielleicht, weil sie glaubten, die Geister der einstigen Bewohner gingen darin um.
Geister, dachte Umbra, wer weiß? Während ihr Blick von Fenster zu Fenster glitt, hörte sie wieder die Schreie, sah den flackernden Feuerschein und das Aufblitzen der Messerklingen. Die Erinnerungen waren so lebendig, so intensiv, dass sie die Augen schließen musste.
Tränen stiegen in ihr auf. Nein, befahl sie sich zornig. Was geschehen war, war geschehen, sie konnte nichts daran ändern. Sie hatte ein neues Leben und würde nicht zulassen, dass die Vergangenheit eine solche Macht über sie bekam. Forsch wandte sie sich ab, stieß dabei einen Bettler zur Seite und ignorierte sein Fluchen, während sie weiterging, ohne sich noch einmal nach dem Hotel umzublicken.
Kurz darauf erreichte sie die Gasse. Sie führte zwischen den Kellergeschossen zweier Stadthäuser entlang und wurde in unregelmäßigen Abständen von Steinbögen überwölbt. Umbra lehnte sich in einem dunklen Winkel gegen die Mauer. In der Nähe des Hotels war ihr das Atmen so schwergefallen, dass sie schon gedacht hatte, sie müsse ersticken. Sie holte tief Luft, bis das Gefühl der Enge in ihrer Brust verschwand.
Verdammtes Rattennest. Verdammter Auftrag. Sie hatte jetzt schon die Nase voll.
Zornig folgte sie der Gasse und schob sich nicht sonderlich rücksichtsvoll durch das Gewühl. In den Nischen links und rechts hatten Krämer winzige Stände aufgebaut, an denen sie Wasser, Essen, gebrauchte Kleider und Hehlerware aller Art verkauften. Dampf quoll aus Töpfen, es roch nach gedünstetem Stockfisch. Nach einigen Schritten bog sie in einen Tunnel ein, in dem sie den Kopf einziehen musste. Sie schob einen glitzernden Vorhang beiseite und betrat ein Gewölbe, das so mit Regalen vollgestopft war, dass sie sich kaum bewegen konnte, ohne eines der zahllosen Fläschchen herunterzuwerfen.
Eine Gestalt trat ins Licht der Gaslaterne.
Sie war fast zwei Köpfe kleiner als Umbra und trug einen fadenscheinigen Umhang, unter dem sich ein Buckel wölbte. Aus der Kapuze blickten zwei verschlagene Äuglein, die in einem faltigen und unglaublich abstoßenden Gesicht saßen. Die meisten Leute, die den Laden betraten, hielten die Gestalt vermutlich für eine sehr alte und sehr hässliche Frau. Umbra jedoch wusste es besser: Vor ihr stand eine Harpyie, ein Schattenwesen, das sich an das Leben in Bradost angepasst hatte. Der Buckel war nichts anderes als ein Flügelpaar, das sie unter der Kutte verbarg, und ihre knotigen, vierfingrigen Hände konnten eine gewisse Ähnlichkeit mit Vogelkrallen nicht verleugnen.
»Umbra«, krächzte die Harpyie. »Welch Glanz in meiner Hütte. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs? Schickt dich deine Herrin? Verlangt es sie nach ein wenig Zerstreuung? Mein Angebot wird dich nicht enttäuschen. Sieh dich um: überall taufrische Ware, eine raffinierter als die andere. Suchst du etwas Bestimmtes, oder darf Mama Ogda dir etwas empfehlen?« Die Krallenfinger schlossen sich um eine Rauchglasphiole. »Hier, ein erster Kuss – sehr beliebt. Oder diese: ein fröhlicher Kindergeburtstag im Sonnenschein.«
Die Harpyie handelte mit gestohlenen Erinnerungen.
»Sag mir, wo sich der Alchymist versteckt«, knurrte Umbra.
Mama Ogda lächelte und entblößte dabei faulige Zahnstümpfe. »Welcher Alchymist? Ich weiß nicht, wovon du redest, meine Liebe.«
Umbra war nicht in der Stimmung für langes Gerede. Sie sammelte sich und spürte, wie die Kraft durch ihre Glieder strömte. Ihr Schatten begann zu wachsen und sich über die schmutzige Theke auszudehnen.
»Was machst du da?«, kreischte die Harpyie und wich ungeschickt zurück. Sie zappelte, als sich Umbras Schattenarme um ihren Körper schlangen und sie vom Boden hochhoben. Dabei trat sie versehentlich gegen eines der Regale, woraufhin einige ihrer kostbaren Phiolen zu Boden fielen und zerbrachen. Die Substanzen darin verflüchtigten sich augenblicklich in der warmen Luft. Bilder, Geräusche und Düfte huschten durch Umbras Verstand, Fetzen von Erinnerungen, die sie zornig abschüttelte.
»Jetzt sieh dir an, was du angerichtet hast!«, jammerte Mama Ogda und wand sich in der schattenhaften Umklammerung.
»Ich habe noch gar nicht richtig angefangen«, erwiderte Umbra. »Willst du sehen, was passiert, wenn ich richtig anfange? Oder willst du lieber reden?«
»Lass mich runter!«
»Ich frage dich nur noch einmal, Mama Ogda: Wo ist Silas Torne?«
»Ich weiß es nicht!«
Der Schatten drückte fester zu. Der Harpyie quollen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Schon gut!«, ächzte sie, »aufhören! Torne ist unten. Im Keller.«
»Zeig mir die Treppe.«
»Keine Treppe. Nur eine Luke. Hinter der Theke.«
Umbras Schattenarme ließen Mama Ogda nicht los, während sie in den hinteren Teil des Ladens ging. Tatsächlich, hinter der Theke, halb verborgen unter einem schäbigen Läufer, befand sich eine Kellerluke.
»Ich lasse dich jetzt runter. Aber ich warne dich: irgendwelche Tricks und ich werde ungemütlich.«
Mama Ogda bewegte die Flügel, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wodurch der Buckel unter der Kutte grotesk hin und her ruckte. Durch den Schmerz der Umklammerung hatte sie Schwierigkeiten, ihr wahres Aussehen zu verbergen, und für einen Augenblick sah sie noch hässlicher und harpyienhafter aus. Mit einem feindseligen Glitzern in den Äuglein starrte sie ihre Peinigerin an.
»Das war nicht nötig«, zischte sie.
Umbra ließ ihren Schatten auf normale Größe schrumpfen. »Nein, war es nicht. Aber du wolltest mich ja unbedingt zum Narren halten.« Es hatte gutgetan, ihre Kräfte spielen zu lassen. Nun fühlte sie sich nicht mehr ganz so aufgekratzt und weinerlich.
»Umbra, die gefürchtete Leibwächterin von Lady Sarka – pah!«, murmelte die Harpyie. »Die Macht ist dir zu Kopf gestiegen. Früher hättest du es nicht gewagt, mich anzurühren. Du hast mich respektiert, denn du hast gewusst, dass es Regeln gibt – Regeln, an die sich jeder im Rattennest halten muss. Aber das hast du offenbar vergessen, Umbra... oder sollte ich Umbra Malumo sagen? Du brauchst mich nicht so anzuglotzen – ich weiß, wer du bist. Viele im Rattennest wissen das, denn die Leute hier haben ein gutes Gedächtnis, im Gegensatz zu...« Mama Ogda verstummte, als Umbra drohend einen Schattenarm in die Länge wachsen ließ.