»Es reicht«, sagte Umbra leise, und in den Augen des Geschöpfs flackerte neuerliche Furcht auf.
Mit dem Fuß schob sie den Läufer weg und sah sich nach etwas um, womit sie die Luke aufhebeln konnte, denn sie wies keinen Griff oder Ring auf. »Weißt du, was ich mich schon die ganze Zeit frage? Wieso lässt du dich mit einem Kerl wie Torne ein? Hast du keine Angst, dass er dich zu Harpyienessenz verarbeitet?«
»Silas würde mir nie etwas tun. Wir kennen uns schon viele Jahre.«
Umbra entdeckte ein Stemmeisen unter der Theke und machte sich damit an der Luke zu schaffen. »Sag bloß, du magst ihn.«
»Ihn mögen?« Mama Ogda lachte meckernd. »Für wie dumm hältst du mich? Wir haben Abmachungen. Zu beiderseitigem Nutzen.«
Knarrend öffnete sich die Klappe. »Du wartest hier oben«, sagte Umbra, bevor sie die Holztreppe hinabstieg. »Und denk daran: keine faulen Tricks.«
Vor ihr tat sich ein muffiger Gewölbekeller auf, voller Regale mit Erinnerungen, sorgfältig destilliert und abgefüllt in Fläschchen und Glasröhren. Sie ging auf den Fackelschein zu und gelangte in den angrenzenden Raum.
Dort saß Silas Torne, einer der mächtigsten Alchymisten Bradosts. Und er sah schrecklich aus.
Er war schon früher hässlich gewesen, denn die jahrzehntelange Arbeit mit giftigen und ätzenden Substanzen hatte ihn krankgemacht und entstellt. Jetzt aber glich er einem Monster. Sein Gesicht und seine Hände waren von Wunden übersät, von zahllosen nässenden Löchern in der Haut, als hätten winzige Mäuler das Fleisch zerbissen. Tornes Lippen waren ausgetrocknet wie bei einer Moorleiche, aus der verbrannten Kopfhaut sprossen vereinzelte Haare. Eine klaffende Höhle befand sich anstelle des linken Auges.
Umbra schluckte. Sie wusste von Tornes Unfall, aber damit hatte sie nicht gerechnet.
Der Alchymist saß an einem Tisch, blätterte in einem Folianten und machte sich manisch Notizen. Er war so in seiner Arbeit versunken, dass er Umbras Auseinandersetzung mit Mama Ogda und ihr Eindringen in den Keller nicht bemerkt hatte. Erst als sie näher kam, schreckte er auf und stieß dabei fast sein Tintenfass um.
»Wer zum Teufel...« Es dauerte einen Augenblick, bis er sie erkannte. »Oh. Du bist es. Was willst du?«
»Mit dir reden. Lady Sarka schickt mich.«
Sein Gesicht – oder das, was davon übrig war – verfinsterte sich. »Ich will nichts mit ihr zu tun haben. Sie soll mich in Ruhe lassen.«
»Sie ist die Lordkanzlerin von Bradost – deine Gebieterin. Du wirst mir brav zuhören, mein Bester, oder wir sehen uns im Ministerium der Wahrheit. Hast du verstanden?«
Torne kauerte mit ausgebreiteten Armen über dem verstreuten Papier wie ein Aasfresser, der seine Beute bewacht. Die graue Robe, die er trug, war viel zu groß für seinen abgemagerten Leib. »Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Corvas’ Krähen haben dich aufgespürt.«
»Corvas«, schnaubte der Alchymist. »Hätte ich mir ja denken können... Also, warum bist du hier? Wie kann ich unserer geliebten Lordkanzlerin zu Diensten sein?«
»Lady Sarka hat von deinem Doppelgänger gehört. Sie möchte ihn dir abkaufen.«
»Wozu braucht sie einen Doppelgänger?«
»Das geht dich nichts an.«
Tornes mumienhafte Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Lass mich raten: Das Attentat hat sie auf die Idee gebracht, richtig?«
»Sie bietet dir eine großzügige Summe«, sagte Umbra.
»Wie großzügig?«
»Zwölftausend Silberschilling.«
»Zu wenig. Sie sollte eigentlich wissen, was ein Doppelgänger kostet.«
»Sie ist bereit, über die Einzelheiten des Geschäfts zu verhandeln.«
Torne lehnte sich zurück. »Es gibt da nur ein kleines Problem. Der Doppelgänger ist tot. Verbrannt wie der Rest meines Besitzes.«
»In diesem Fall erteilt dir Lady Sarka den Auftrag, ihr einen neuen Doppelgänger zu beschaffen.«
»Schwierig. Sie wachsen nicht gerade auf Bäumen, weißt du?«
»Du hast einmal einen gefunden. Es kann doch nicht so schwer sein, noch einen aufzutreiben.«
»Und wenn ich gerade Besseres zu tun habe?«
»Das da wäre?«
»Privatsache«, sagte Torne.
Umbra drehte den Folianten und betrachtete die aufgeschlagenen Seiten. »Alben und ihre Kräfte? Machst du wieder Jagd auf unschuldige Schattenwesen?«
»Schon möglich.«
»Es gibt keine Alben mehr.«
»Einer ist noch da.«
»Sag bloß, du suchst nach Aziel.«
»Nach Lucien!«, sagte Torne und spie den Namen aus wie ein widerliches Stückchen Knorpel.
Sein Hass ließ die Luft in dem Gewölbe vibrieren. Umbra musterte ihn nachdenklich. Lucien... Dieser Name fiel in letzter Zeit verdächtig oft. »Weswegen?«
Torne schwieg finster.
»Steckt er hinter deinem Unfall?«, fragte sie ins Blaue hinein.
Der Alchymist versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch sie konnte sehen, dass ein Muskel in seinem Gesicht zuckte.
»Lucien hat dir das angetan, nicht wahr?«
Torne fuhr auf und schlug krachend auf den Tisch. »Ich werde ihn finden!«, schrie er. »Und dann koche ich diesen Bastard aus, Knochen für Knochen, bei lebendigem Leib!«
Umbra beschloss, ihre Strategie zu ändern. Wenn Geld allein Torne nicht interessierte, musste sie ihm eben etwas anbieten, das ihn mehr reizte. Und wenn sie dabei ein paar Antworten bekam – umso besser. Schließlich war ihr immer noch nicht klar, welche Rolle Lucien bei Aziels Angriff auf Jackon gespielt hatte. »Ich habe ihn gesehen.«
»Lucien? Wann?«
»Vor zwei Tagen. Er war im Palast.«
Tornes gesundes Auge verengte sich zu einem Schlitz. »Tatsächlich?«
»Ich kann dir mehr sagen, wenn du mir verrätst, was in deinem Labor vorgefallen ist.«
»Lucien ist vor knapp zwei Wochen in meinem Haus aufgetaucht. Er wollte mich zwingen, ihm bei seinen Nachforschungen zu helfen.«
»Welche Nachforschungen?« »Er wollte herausfinden, wer dem Harlekin Jernigans Lampe gegeben hat.«
Umbra hatte so etwas geahnt. Sie wussten seit Langem, dass Lucien gelegentlich für Aziel arbeitete – oder gearbeitet hatte. Während Aziels Angriff auf den Palast hatten sich die beiden Alben mitnichten wie Verbündete verhalten, sondern gegeneinander gekämpft. Eines der vielen Rätsel jener Nacht. »Was hast du ihm gesagt?«
»Das wenige, das ich weiß. Dass Corvas die Lampe beschafft hat.«
Eigentlich hätte Torne nichts von der Lampe wissen dürfen. Doch das Auftauchen eines solch kostbaren und mächtigen Gegenstands blieb nie lange geheim – und Männer wie Torne waren stets die Ersten, die davon hörten. »Was ist dann geschehen?«
»Es kam zu einem... Missverständnis«, sagte der Alchymist gedehnt.
»Ihr habt versucht, euch gegenseitig übers Ohr zu hauen«, mutmaßte Umbra.
»Diese Kakerlake hat meinen Mantikor befreit! Er ist schuld am Tod meines Doppelgängers!«
»Hat er auch den Blutgeist gerufen?«
»Wieso weißt du davon?«
»Ich weiß es eben.«
»Ich habe ihn beschworen«, brummte Torne. »Um Lucien aufzuhalten.«
Den Rest der Geschichte konnte Umbra sich zusammenreimen. Drei magische Wesen und ein verrückter Alchymist auf engstem Raum – kein Wunder, dass von dem Laboratorium nur noch Schutt und Asche übrig waren. »Kommen wir zum Geschäftlichen«, sagte sie.
Der Alchymist starrte sie bohrend an. »Du hast gesagt, Lucien ist im Palast gewesen. Wieso?«
»Eine Horde von Ghulen hat den Palast angegriffen. Er hat uns gewarnt.«
»Ghule?«, fragte er ungläubig.
Umbra verlor allmählich die Geduld. Für ihren Geschmack dauerte das Gespräch schon viel zu lange. »Hör zu«, sagte sie barsch. »Wir helfen dir, Lucien aufzuspüren. Im Gegenzug beschaffst du Lady Sarka einen Doppelgänger. Ist das ein Angebot?«