»Ich brauche keine Hilfe.«
»Du sitzt in einem stinkenden Loch, ohne Freunde, ohne Geld, und sogar ein Blinder sieht, dass du dich vor Schmerzen kaum bewegen kannst. Und wie du Hilfe brauchst.«
»Ich wohne hier nur übergangsweise. Und in spätestens zwei Wochen habe ich mich erholt.«
»Bis dahin ist Lucien längst über alle Berge.«
Tornes Finger krümmten sich krallenhaft, als sein Zorn von Neuem erwachte.
»Er ist zu gerissen. Allein findest du ihn nie«, fuhr Umbra fort. »Aber mit der Geheimpolizei und Corvas’ Krähen hast du vielleicht eine Chance.«
»Corvas würde mir helfen?«, fragte er argwöhnisch.
Sie nickte.
»Könnt ihr mir auch eine bessere Unterkunft beschaffen?«
»Du kannst für die Dauer des Auftrages im Palast wohnen, wenn du willst.«
»Ein neues Labor wäre auch nicht schlecht.« »Im Palast stehen mehrere Labore leer. Lady Sarka hat sicher nichts dagegen, wenn du eins benutzt.«
»Mit vierzig Jahre alter Ausstattung kann ich nichts anfangen. Ich brauche die beste und modernste, die auf dem Markt ist.«
»Jetzt werde nicht unverschämt. Sei froh, dass du überhaupt ein Labor von uns bekommst.«
»Du verstehst mich nicht. Mit veralteter Ausrüstung kann ich den Auftrag nicht ausführen. Um Schattenwesen aufzuspüren, muss ich mich in höhere Bewusstseinszustände versetzen. Hierzu benötige ich Elixiere, die niemand außer mir herstellen kann. Die meisten bestehen aus Substanzen, die instabil und leicht verderblich sind, weswegen man sie unter keinen Umständen in...«
»Schon gut«, unterbrach Umbra das alchymistische Kauderwelsch. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
»Und Geld«, sagte Torne. »Ich brauche fünftausend Silberschilling zur freien Verfügung. Vielleicht auch mehr.«
»Für was, bei allen Dämonen?«
»Mindestens zwei Apparate, die ich brauche, gibt es nicht zu kaufen. Ich muss sie bauen, und das Material ist selten und schwer zu beschaffen.«
»Nein. Das neue Labor ist schon teuer genug. Mehr ist nicht drin.«
»Dann gibt es auch keinen Doppelgänger. Tut mir leid.«
Umbra verschränkte die Arme vor der Brust. Jeder Narr konnte sehen, dass Torne im Begriff war, sie über den Tisch zu ziehen. Aber sie war machtlos dagegen. Seine speziellen Fähigkeiten waren einzigartig in Bradost. Er hatte sie in der Hand und wusste es. »Dreitausend. Und keinen Viertelschilling mehr.«
»Viertausend.«
»Abgemacht.«
Der Alchymist beugte sich lauernd über den Tisch. »Noch etwas: Wenn wir Lucien finden, gehört er mir allein, klar?«
»Erst verhöre ich ihn. Danach kannst du ihn haben.«
»Unbeschädigt, bitte.«
»Das sollte sich machen lassen.«
Tornes Lippen verzogen sich zu seinem Schurkenlächeln. »Ich muss sagen, mit der Lordkanzlerin Geschäfte zu machen ist ganz nach meinem Geschmack.«
Umbra kam zu dem Schluss, dass sie diesen Kerl noch weniger mochte als Corvas und Amander zusammen. »Los, pack deine Sachen. Ich will im Palast sein, bevor es dunkel wird.«
»Ich brauche nur das Buch und meine Aufzeichnungen...«
»Gut.« Sie packte den verblüfften Alchymisten am Kragen seiner Robe, öffnete mitten im Raum ein Schattentor und stieß ihn hinein.
Sein Schrei war eindeutig das Beste an diesem Tag.
8
Krieger, Lügner und Verschlinger
Vivana beobachtete die rauchverhangene Ebene jenseits des Tümpels. Manchmal schien sich etwas in dem goldenen Dunst in der Ferne zu bewegen, aber vermutlich bildete sie sich das nur ein. Etwas sagte ihr, dass man sich an diesem seltsamen Ort nicht auf seine fünf Sinne verlassen sollte.
Sie wandte sich zu ihrem Vater und Lucien um, die genau wie sie im Schutz der Felsen kauerten und die Umgebung im Auge behielten. Wie lange sie schon hier saßen, konnte sie schlecht schätzen. Vielleicht eine halbe Stunde. Der allgegenwärtige Dunst, der flammende Himmel und der klagende Wind bewirkten, dass man jegliches Zeitgefühl verlor. Ruac schien sich an alldem nicht zu stören. Er hatte sich zusammengerollt und döste.
»Du bist wirklich sicher, dass wir hier auf Dämonen treffen?«, fragte sie den Alb.
»Siehst du nicht die Spuren?«
Vivana sah gar nichts, aber ihre Augen waren auch nicht so scharf wie seine.
»Sie kommen her, um sich an dem Tümpel zu laben«, sagte Lucien. »Dämonen ernähren sich von böser Energie.«
Überraschenderweise ließ sich ihr Vater nicht zu einer abfälligen Bemerkung hinreißen. Er schwieg schon die ganze Zeit. Offenbar wurde sein wissenschaftliches Weltbild gerade gehörig erschüttert.
Voller Unbehagen betrachtete sie die Gegenstände, die Lucien ausgepackt hatte: ein Netz, eine Seilrolle, einen Knüppel und natürlich das runenverzierte Brandeisen. Damit wollte er einen Dämon fangen, um ihn nach Liam zu befragen. Vivana war nicht gerade begeistert von diesem Plan, denn von ihrer Tante wusste sie, wie gefährlich Dämonen sein konnten. Aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein.
Lucien bemerkte ihre Skepsis. »Was ist los? Vertraust du mir nicht?«
»Das Pandæmonium ist riesig, oder? Und es ist voll mit Dämonen.«
Der Alb nickte.
»Wie sollen wir unter diesen Umständen einen Dämon finden, der weiß, wo Liam ist? Ich meine, das ist ungefähr so, als hätte man irgendwo in Bradost einen Schilling verloren und würde einen x-beliebigen Fußgänger fragen, ob er ihn gesehen hat.«
»Hier funktionieren die Dinge ein wenig anders als in Bradost«, sagte er lächelnd. »Die wenigsten Dämonen dürften etwas über Liam wissen, das ist richtig. Deswegen müssen wir versuchen, einen ganz bestimmten zu finden. Einen Lügner.«
»Einen Lügner?«
»Es gibt verschiedene Arten von Dämonen. Lügner sind Meister der Täuschung. Sie erzählen pausenlos die Unwahrheit und lieben nichts mehr, als andere in die Irre zu führen und ins Verderben zu locken.«
»Und ausgerechnet so jemanden willst du nach dem Weg fragen?«, erwiderte sie stirnrunzelnd.
»Lügner sind nahezu allwissend, zumindest was die Vorgänge im Pandæmonium betrifft. Die Chancen stehen gut, dass sie von Liam gehört haben.«
»Aber wird er nicht versuchen, uns, na ja, zu belügen?«
»Natürlich. Aber dafür haben wir das hier.« Er klopfte auf das Brandeisen.
Vivana blickte zu ihrem Vater, der fluchend seine Taschenuhr schüttelte. »Was ist?«
»Das verdammte Ding spielt verrückt«, murrte der Erfinder. »Wahrscheinlich hat sich eine Feder gelöst, als wir aus dem Tor gefallen sind.« Er wühlte in ihrem Tragekorb und holte einen winzigen Schraubenzieher heraus. Vivana hatte ihn nicht davon abbringen können, ein Werkzeugset einzupacken. Ohne sein Werkzeug gehe er nirgendwohin, hatte er gesagt.
»Deine Uhr ist in Ordnung«, sagte Lucien. »Es liegt am Pandæmonium, dass sie nicht richtig funktioniert. Die Zeit verläuft hier anders als in eurer Welt.«
»Wie meinst du das?«, fragte Vivana.
»Es kann sein, dass wir wochenlang unterwegs sind, während in Bradost nur ein paar Stunden vergehen. Oder umgekehrt. Das Pandæmonium liegt im Nichts. Im Nirgendwo. Naturgesetze gelten hier nicht.«
Sie verzog den Mund. Kein Wunder, dass sie kein Zeitgefühl mehr hatte.
Ihr Vater ließ sich nicht beirren, öffnete die Uhr und schraubte darin herum. Nach einer Weile gab er jedoch schimpfend auf.
Vivana beobachtete wieder die Ebene. Plötzlich entdeckte sie einen Schemen im Dunst, und diesmal war sie sicher, dass ihre Augen ihr keinen Streich spielten. »Lucien, da!«, stieß sie hervor.