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Er sah es auch. »Ein Dämon! Versteckt euch!«

Sie zogen die Köpfe ein. Vivana lag neben Lucien und spähte durch einen Spalt zwischen den Felsen. Ruac war aufgewacht und zu ihr gekrochen. Höchste Wachsamkeit sprach aus seinen Reptilienaugen.

Aus dem Dunst trat eine groteske Gestalt. Das Geschöpf besaß ledrige Haut, einen menschlichen Torso und einen knochigen Schädel mit einer Öffnung, wo sich bei Menschen die Nase befand, zwei kleinen Löchern anstelle der Ohren und einem Maul voller Reißzähne. Seine Augen glühten gelb. In einer Hand hielt es eine Lanze mit gezackter Spitze, in der anderen einen Schild, der aussah, als wäre er mit menschlicher Haut bespannt. Der Unterleib ging in vier Beine über, die in hornartigen Spitzen endeten.

Vivana schluckte trocken. Sie hatte sich gerade erst von ihrer Begegnung mit Ghulen und Vílen erholt. Dieser Dämon jedoch war noch um einiges schrecklicher. »Ist das ein Lügner?«, flüsterte sie.

»Ein Krieger«, antwortete Lucien. »Seid leise. Er ist gefährlich.«

Der Dämon blieb am Ufer des Tümpels stehen und tauchte seine Lanze in den schwarzen Schleim. Voller Ekel beobachtete Vivana, wie er mit seiner langen Zunge die Spitze der Waffe ableckte.

Sie war maßlos erleichtert, als das Geschöpf kurz darauf wieder im Dunst verschwand. Auch ihren Vater und sogar Lucien hatte der Anblick sichtlich verstört, und es dauerte eine Weile, bis wieder jemand zu sprechen wagte.

Obwohl seit ihrer Ankunft einige Stunden vergangen sein mussten, änderten sich die Lichtverhältnisse nicht – stets lag ein rötliches Zwielicht über dem Land. Lucien erklärte, dass es im Pandæmonium weder Tag noch Nacht gebe, nur diesen unveränderlichen Zwischenzustand. Dafür lichtete sich irgendwann der Dunst, vielleicht weil der Wind gedreht hatte, und Vivana konnte wieder die titanischen Ruinen am Horizont erkennen. Die bizarren Gebilde erschienen ihr beinahe noch unheimlicher als der vierbeinige Dämon.

»Wer hat all das erbaut?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Lucien.

»Dämonen?«

»Wohl kaum. Sie sind nicht dazu fähig, etwas zu erschaffen. Sie können nur vernichten und zerstören.«

»Als Kind hatte ich einen Hauslehrer, der Priester war«, sagte Vivana. »Er hieß Vater Cuthbert. Weißt du noch, Paps?«

»Er war ein Fanatiker und ein Dummkopf dazu«, meinte ihr Vater. »Ein Glück, dass er es nicht lange mit dir ausgehalten hat.«

»Statt mir Rechnen und Geographie beizubringen, hat er mir stundenlang Predigten gehalten«, fuhr sie fort. »Über die Kirche und wie Tessarion über das Meer gekommen ist, um uns den wahren Glauben zu bringen, und so weiter. Meistens ging es dabei auch um das Pandæmonium.«

»Inwiefern?«, fragte Lucien ohne großes Interesse. »Er hat gesagt, Tessarion hätte das Pandæmonium erschaffen und die Dämonen darin eingesperrt, um das Böse zu bezwingen.«

»Priester erzählen ständig solche Dinge«, sagte der Alb. »Du darfst das nicht so ernst nehmen.«

»Ich weiß. Aber wenn das alles falsch ist, was im Buch Tessarion steht – was ist dann die Wahrheit?«

»Ich habe nicht gesagt, dass alles falsch ist, was eure Priester sagen. Nur manches. Besonders die Geschichten über das Pandæmonium.« Lucien setzte sich so, dass er gleichzeitig mit ihr reden und den Tümpel im Auge behalten konnte. »Vor wie vielen Jahren hat euer Gott gelebt? Vor ein paar Jahrhunderten, richtig? Das Pandæmonium ist viel älter. Es war schon da, als ich erwacht bin – und glaub mir, ich bin sehr alt.«

Sie wollte ihn fragen, was er damit meinte, er sei »erwacht«, doch da fuhr er bereits fort: »Es ist richtig, dass das Pandæmonium ein Gefängnis für die Dämonen ist. Aber wer es erschaffen hat, weiß niemand. Vielleicht war es schon immer da.«

Während Lucien erzählte, näherten sich von den Ruinen drei der geflügelten Wesen, die Vivana kurz nach ihrer Ankunft gesehen hatte. Als Lucien sie bemerkte, befahl er ihnen abermals, in Deckung zu gehen und sich auf keinen Fall zu bewegen. Wenig später landeten die Kreaturen am Tümpel. Jeder der schwarzen Riesenvögel war beinahe so groß wie ein Pferd und besaß einen langen Hals und ungesund glänzendes Gefieder, in dem es vor Parasiten nur so wimmelte. Ihre gekrümmten Schnäbel waren mit winzigen Reißzähnen bestückt, und in ihren Augen glühte eine boshafte Intelligenz. Sie labten sich am Schleim, gaben raspelnde Krächzlaute von sich, bei denen es Vivana kalt über den Rücken lief, und stiegen wieder zum flammenden Himmel auf.

»Das waren Verschlinger«, erklärte Lucien, als die Dämonenvögel fort waren. »Nehmt euch vor ihnen in Acht. Normalerweise fressen sie verdammte Seelen, aber vermutlich wissen sie auch Menschenfleisch zu schätzen.«

Die Stunden verstrichen – falls es im Pandæmonium überhaupt so etwas wie Stunden gab. In unregelmäßigen Abständen kamen weitere Dämonen zum Tümpel, Wesen, die genauso abstoßend wie der Krieger und die Verschlinger waren, aber vergleichsweise harmlos. Eine kleine Schar gedrungener und aufgedunsener Geschöpfe, die sich ungelenk auf drei Stummelbeinen fortbewegten, erschien irgendwann und stopfte sich die Mäuler mit Schleim voll. Nachdem sie verschwunden waren, kroch aus einem der rauchenden Löcher ein fleischfarbener Wurm mit Reihen rudimentärer Gliedmaßen an den Flanken, gefolgt von zwei wasserspeierartigen Geschöpfen, die sich zischend unterhielten und mit ihren Messern herumfuchtelten, nachdem sie sich satt gefressen hatten.

Vivanas Vater machte sich ununterbrochen Notizen und fertigte skizzenhafte Zeichnungen von den Ungeheuern an. Anfangs erzählte Lucien ihnen das eine oder andere zu den verschiedenen Bewohnern des Pandæmoniums, doch nach einer Weile verfiel er in Schweigen, ganz in seine eigenen Gedanken versunken.

Vivana musste schließlich eingenickt sein, denn plötzlich schreckte sie auf. Lucien hatte sie angestoßen.

»Ein Lügner ist da«, flüsterte der Alb. »Halte dich bereit.«

Schlagartig war sie hellwach und spähte zwischen den Felsen hindurch. Das Wesen, das sich dem Tümpel näherte, sah auf den ersten Blick aus wie ein Mensch: Es ging auf zwei Beinen und besaß einen Torso, zwei normal geformte Arme und einen Kopf. Damit jedoch endeten die Gemeinsamkeiten. Anstelle von Händen verfügte der Dämon über lange, vierfingrige Krallen. Er trug weder Kleidung noch Waffen und wies keine erkennbaren Geschlechtsorgane auf. Seine ockergelbe Haut war mit verschlungenen Linien versehen – ob es sich dabei um eine schmückende Bemalung oder eine natürliche Zeichnung handelte, konnte Vivana nicht erkennen. Am wenigsten menschenähnlich war der Kopf. Mehr als ein Dutzend lidlose Augen saßen in dem haarlosen Schädel, vorne, hinten und an den Seiten, sodass der Dämon gleichzeitig in alle Richtungen blicken konnte.

Stumm nickte Lucien Vivana und ihrem Vater zu. Sie hatten sich schon vor Stunden auf eine gemeinsame Vorgehensweise geeinigt, und jeder kannte seine Aufgabe. Vivana rief sich Luciens Warnung ins Gedächtnis: Der Dämon würde mit allen Mitteln versuchen, sie zu täuschen und zu manipulieren, denn das lag in seiner Natur. Deswegen war es am sichersten, seinen Lügen nicht zuzuhören, bis Lucien ihn gebrandmarkt hatte und er ihnen gehorchen musste.

Der Dämon kniete neben dem Tümpel und schöpfte mit den Krallenhänden Schleim heraus.

Lucien griff nach dem Knüppel und dem Brandeisen. »Jetzt!«, flüsterte er, woraufhin sie aufsprangen und den Steilhang zur Mulde hinunterstürmten, mehr schlitternd als rennend und begleitet von einer kleinen Lawine aus Staub und Geröll. Sie versuchten gar nicht erst, leise zu sein und sich anzuschleichen, denn dank seiner Augen am Hinterkopf hätte der Dämon sie ohnehin entdeckt. Er fuhr auf und wirbelte zu ihnen herum. Vivana und ihr Vater warfen das Netz, es schlang sich um seinen Kopf, seine Schultern und Arme, und er verhedderte sich augenblicklich darin. Dabei riss er seinen breiten, mit spitzen Zähnen bewehrten Mund auf und schrie vor Zorn. Vivana fürchtete, das Netz könnte zerreißen, doch die Maschen widerstanden seinen heftigen Bewegungen. Der Dämon stürzte zu Boden und wälzte sich im Staub, wodurch er sich nur noch mehr verstrickte.