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»Wir suchen einen menschlichen Jungen namens Liam Satander«, begann er. »Sag uns, wo wir ihn finden.«

»Warum sollte ich das wissen?«

»Weil du ein Lügner bist, deswegen.«

»Lügner?« Die beiden Münder des Dämons formten ein höhnisches Grinsen. »So nennt ihr mich also? Ich bin zutiefst gekränkt. Von meinem neuen Meister hätte ich ein wenig mehr Höflichkeit erwartet.«

»Beantworte meine Frage.«

»Eigentlich war es keine Frage, sondern eine Aufforderung.«

»Weißt du, wo Liam ist, oder nicht?«, erwiderte Lucien barsch.

Der Dämon schien nachzudenken – oder tat nur so. »Liam Satander... Sechzehn oder siebzehn Menschenjahre alt? Blond? Hübsches Kerlchen?«

Vivana war so aufgeregt, dass sie nicht sitzen bleiben konnte. »Das ist er! Wo hast du ihn gesehen? Geht es ihm gut?«

Lucien warf ihr einen warnenden Blick zu, der Halte dich besser zurück zu sagen schien. »Hast du wirklich von ihm gehört?«, wandte er sich wieder an den Dämon. »Oder ist das nur eine von deinen Lügen?«

»Deine ständigen Unterstellungen sind ermüdend. Ja, ich habe von ihm gehört. Wie könnte ich sonst wissen, wie er aussieht?«

»Vielleicht weil du ihn in Vivanas Erinnerungen gesehen hast.«

»Vielleicht habe ich das.« Der Dämon grinste wieder. »Deine Erinnerungen sind übrigens auch recht interessant...«

»Mach dich nicht lächerlich. Du kannst meine Gedanken nicht lesen. Gut. Du hast also von dem Jungen gehört. Wo ist er?«

»Wozu macht ihr euch solche Mühe? Wahrscheinlich ist er längst gefressen worden. Oder ein geflügelter Belial hat ihn gefunden und ihm seine unsterbliche Seele ausgesaugt. Es könnte auch sein, dass man ihm das Herz herausgerissen und —«

»Lass das«, befahl Lucien barsch. »Sag uns, wo Liam angekommen ist.«

»Am Ufer des Schreienden Flusses«, antwortete der Dämon.

»Falsch«, widersprach sein Bauch. »Es war in den Hügeln jenseits der Brennenden Ebene.«

In gespieltem Bedauern zuckte der Dämon mit den Schultern. »Ich fürchte, wir sind uns nicht einig.«

»Wie du willst«, erwiderte Lucien. »Verabschiede dich von einem Auge.«

»Nur ein kleiner Scherz«, lenkte das Geschöpf ein. »Es war am Schreienden Fluss. Nicht wahr?«

»Gewiss«, stimmte der zweite Mund zu.

»Wie weit ist das entfernt?«

»Zu weit für euch. Der Weg führt mitten durch Nachachs Reich. Seine Blutsklaven werden euch töten, bevor ihr auch nur in die Nähe gekommen seid.«

»Nachach – wer ist das?«

»Der Herrscher dieser Gegend.«

»Dienst du ihm?«

»Ich diene dir, mein geliebter Meister«, säuselte der Dämon, »niemandem sonst.«

»Zeig mir den Weg auf der Karte.« Lucien holte das Futteral hervor und entrollte das vergilbte Pergament.

Der Dämon begann zu kichern. »Das ist deine Karte? Dieses vergammelte Stück Papier? Du bist verloren, mein Freund. Hoffnungslos verloren.«

»Spar dir dein Geschwätz. Wo ist der Schreiende Fluss?«

Ein dünner Krallenfinger tippte auf die Karte. »Hier.«

»Führ uns hin.«

»Mit Vergnügen.« Der Lügner machte eine spöttische Verneigung. »Nach dir, Meister.«

Vivana verließ die kleine Höhle als Letzte. Sie spürte, dass das Geschöpf etwas im Schilde führte, sie spürte es überdeutlich.

9

Fieberträume

Irgendwo unter dem Nebel des Morphiums, der schwer auf seinem Verstand lag, träumte Jackon.

Seite an Seite mit Liam streifte er durch dunkle Gänge und Abwassertunnel und erlebte noch einmal ihr gemeinsames Abenteuer in den Katakomben. Sie flohen aus einem einstürzenden Kellergewölbe und halfen einander, einen unterirdischen Fluss zu überqueren. Sie schlüpften durch vergessene Türen, kletterten zugige Schächte hinauf und sprachen sich gegenseitig Mut zu, dass sie gewiss bald einen Ausgang finden würden. Sie lachten Tränen, weil die Arbeiter einer Gießerei sie für zwei Ghule hielten und panisch die Flucht ergriffen.

Der Traum war so real, dass Jackon den Gestank der Abwässer roch und das eiskalte Flusswasser auf seiner Haut spürte. Er fühlte nagende Furcht, sie könnten sich in dieser lichtlosen Unterwelt verlaufen, und grenzenlose Erleichterung, als sie endlich einen Weg hinaus entdeckten. Doch all das war nichts gegen die Freude, die er empfand, Freude darüber, in Liam einen Gefährten gefunden zu haben. Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht mehr allein, zum ersten Mal hatte er jemanden, mit dem er reden und lachen konnte, dem er vertraute. Einen Freund.

Irgendwann jedoch verblassten die Bilder, die Eindrücke wurden schwächer. Als Jackon begriff, dass er aufwachte, kämpfte er dagegen an. Er wollte weiterschlafen, weiterträumen, denn eine Stimme tief in seinem Innern sagte ihm, dass in der Wirklichkeit nichts als Trauer und Einsamkeit auf ihn warteten. Dass Liam fort war und er ihn nie wiedersehen würde. Aber so sehr er sich auch dagegen wehrte, langsam glitt er in die Wachwelt hinüber, bis er schließlich die Augen aufschlug und sich in seinem Bett wiederfand.

Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Er musste geweint haben, denn das Kopfkissen war feucht von seinen Tränen. Die gelbe Lampe brannte und erfüllte das geheime Zimmer mit schummrigem Licht. Es roch nach Schweiß, Eiter und dem scharfen Geruch der Wundsalbe.

Er blieb reglos liegen und starrte an die Zimmerdecke.

Liam ist tot.

Es war dieser Gedanke, mit dem er seit Tagen aufwachte. Jackon schloss die Augen, um abermals einzuschlafen, denn er wollte zu seinem Traum zurückkehren, wo Liam am Leben war, wo er nicht dieses erdrückende Gefühl der Einsamkeit empfand. Vergeblich. Er hatte lange geschlafen. Er würde frühestens wieder in einigen Stunden müde sein.

Und so lange war er allein mit seinen Gedanken und seiner Trauer.

Liam ist tot – und ich bin schuld daran.

Hätte er seine Anweisungen befolgt und sich von Aziels Palast ferngehalten, wäre der Herr der Träume nicht auf ihn aufmerksam geworden, wäre es nie zum Angriff der Ghule und der Schlacht im Kuppelsaal gekommen. Seth hätte ihn nicht verwundet, und Liam hätte nicht versuchen müssen, ihn vor dem Incubus zu beschützen.

Alles seine Schuld. Nur weil er dumm und übermütig gewesen war.

Ihm kamen erneut die Tränen, Tränen des Selbsthasses und der Trauer. Nachdem er geweint hatte, fühlte er sich ausgelaugt und leer.

Es war das erste Mal, dass er so genau über diese Dinge nachdachte. Während der vergangenen Tage wäre er gar nicht dazu in der Lage gewesen, so benommen und müde, wie ihn das Morphium machte. Heute jedoch fühlte er sich einigermaßen klar im Kopf. Offenbar hatte Doktor Addock die Dosis des Schmerzmittels reduziert.

Er wusste nicht genau, wie viel Zeit seit dem Kampf vergangen war. Eine knappe Woche vielleicht. Die Schmerzen waren inzwischen längst nicht mehr so stark wie am Anfang, und der Juckreiz unter dem Verband deutete darauf hin, dass die Wunde verheilte. Auch seine Kräfte kehrten allmählich zurück. Er traute sich zu, ohne Hilfe das Bett zu verlassen.

Er beschloss, den Versuch zu wagen, auch auf die Gefahr hin, wieder Schmerzen zu bekommen oder hinzufallen. Alles war besser, als dazuliegen und vor sich hin zu grübeln.

Vorsichtig schlug er die Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante... und hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Wenn er nur hätte sagen können, was...

Der Traum – natürlich. Eigentlich durfte er gar nicht träumen. Nach seiner unfreiwilligen Begegnung mit Aziel in der Stadt der Seelen hatte Lady Sarka ihm ein Mittel verabreicht, das ihn am Träumen hinderte. Sie hatte ihm befohlen, den Trank jeden Abend vor dem Schlafengehen einzunehmen, damit Aziel ihn nicht in seinem Seelenhaus aufspüren konnte.