Выбрать главу

Warum also hatte er geträumt? Er blickte zu dem Tischchen, auf dem die Phiolen und Tiegel von Doktor Addock standen. Der Trank war nicht dabei. Es sah ganz danach aus, als hätte man vergessen, ihm davon zu geben, während er bewusstlos gewesen war.

Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Hatte er auch in den anderen Nächten geträumt? Wegen des Morphiums konnte er sich nicht daran erinnern. Wenn ja, war das sehr schlecht. In der Wachwelt mochte Aziel vorerst besiegt sein, aber in seinem Reich besaß er immer noch Macht. Wenn er erfuhr, dass Jackon wieder träumte, konnte er ihn mühelos aufspüren und seiner schutzlosen Seele Schaden zufügen oder sie sogar vernichten.

Er musste dringend mit jemandem darüber reden, mit Umbra oder, besser noch, mit Lady Sarka. Er stand auf und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Hastig hielt er sich am Bettpfosten fest. Er hatte so lange gelegen, dass ihm vom Aufstehen schwindelig wurde.

Vorsichtig ging er zur Truhe, auf der seine Kleider lagen. Mit Müh und Not schaffte er es, sein Nachthemd aus- und die anderen Sachen anzuziehen. Mehrmals musste er die Zähne zusammenbeißen, denn die Wunde schmerzte bei jeder unbedachten Bewegung.

Wellcott und Kendrick hatten ihn regelmäßig gewaschen, trotzdem sah er mit seinen fettigen Haaren und der schweißverklebten Haut schrecklich aus und roch entsprechend. Konnte er so Lady Sarka unter die Augen treten? Egal, dachte er. Ohne Hilfe brachte er bestenfalls eine Katzenwäsche zu Stande, also konnte er es genauso gut sein lassen. Außerdem hatte ihn die Lady schon in einem wesentlich schlimmeren Zustand gesehen.

Während seiner Ausbildung hatte er sich immer gefragt, wie Lady Sarka das geheime Zimmer betrat und verließ. Inzwischen wusste er, dass sich in der Ecke hinter dem Wandschirm, wo das Grammophon stand, eine verborgene Tür befand. Auch die stummen Zwillinge benutzten sie, und er hatte einmal beobachtet, wie sie geöffnet wurde.

Er fuhr mit den Fingern eine Spalte zwischen zwei Wandpaneelen entlang, bis er einen metallenen Knopf ertastete. Er drückte ihn, woraufhin ein Teil der Wand lautlos aufschwang. Dahinter verlief ein Gang mit nackten Steinwänden.

Durch einen vergitterten Fensterschlitz fiel etwas Licht. Es war Abend, und Jackon konnte einen Teil des Palastgartens erkennen. Er sog den Anblick der Bäume und der Altstadt, die sich hinter der Gartenmauer erstreckte, regelrecht in sich auf. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er etwas anderes als die Einrichtung des geheimen Zimmers gesehen hatte.

Langsam, mit einer Hand an der Wand, folgte er dem Gang. Er hatte es nicht geschafft, Schuhe anzuziehen. Die Steinplatten unter seinen Fußsohlen fühlten sich kühl an.

Der kurze Korridor endete an einer schlichten Holztür, die er vorsichtig öffnete. Vor ihm erstreckte sich ein verwinkelter Raum voller Bücherregale. Irgendwo brannten Lampen. Durchgänge führten zu Nebenzimmern, die ebenfalls Bücher enthielten. Er stellte fest, dass die Tür nur von seiner Seite aus als solche zu erkennen war. Von der anderen Seite aus glich sie der holzgetäfelten Wand und wäre nicht mehr zu sehen, wenn er sie schließen würde.

»Herrin?«, fragte er.

Ein Geräusch erklang, ein leises Knarren. Jackon ging zu dem Durchgang, aus dem der Laut gekommen war – und prallte vor Schreck zurück. In der Kammer, befestigt an vier Ketten, hing ein Käfig, der leicht hin- und herschwankte. Darin saß ein Wesen, ein unsagbar hässliches Ding mit grauer Haut, verkrüppelten Gliedmaßen und Krallenhänden, mit denen es sich an den Gitterstäben festhielt. Es starrte ihn an – oder hätte ihn angestarrt, wenn es Augen gehabt hätte, was nicht der Fall war. Der klobige Schädel wies lediglich zwei verwachsene Löcher auf.

Es dauerte eine volle Minute, bis sich sein Entsetzen legte. Schließlich wurde ihm klar, dass er dieses Geschöpf schon einmal gesehen hatte, wenn auch nur ganz flüchtig. Es war eines Abends im geheimen Zimmer gewesen, im Beisein von Lady Sarka. Die Lady hatte es »Haustier« genannt.

Das Ding schmatzte. Zögernd ging Jackon näher zum Käfig. Ein kleines Schild, auf dem etwas geschrieben stand, war daran angebracht. Zwar hatte Liam ihm ein paar Buchstaben beigebracht, aber nicht genug, um das Wort zu entziffern.

»Was bist du?«, flüsterte Jackon.

»Sein Name ist Primus.«

Keuchend fuhr er herum und wäre um ein Haar hingefallen. Im Durchgang stand Lady Sarka. Sie lächelte und kam näher.

»Wie schön, dass du aufstehen kannst. Dir geht es besser, nicht wahr?«

Jackon nickte.

»Doktor Addock ist der Beste seines Fachs. Ich habe nie an seinem Erfolg gezweifelt, obwohl es anfangs nicht besonders gut um dich stand. Aber er hat sich ganz vorzüglich um dich gekümmert.«

»Ja, das hat er«, murmelte Jackon. Er konnte nicht anders, als abermals das Wesen im Käfig zu betrachten. Das albtraumhafte Geschöpf übte eine morbide Faszination auf ihn aus.

»Nicht gerade das, was man in einer Bibliothek zu finden erwartet, nicht wahr?«, meinte Lady Sarka.

»Nein.«

»Primus ist meine erste Schöpfung, deswegen bringe ich es nicht fertig, ihn im Keller einzusperren. Leider ist er zu klug für diesen Käfig. Manchmal überkommt ihn die Sehnsucht nach Freiheit, dann bricht er aus und streift nachts durch das Anwesen. Sehr zu Umbras Leidwesen, die ihn wieder einfangen muss.«

»Was ist das für ein Tier?«

»Kein Tier. Ein Homunculus. Ein alchymistisches Wesen.«

Primus gab erneut ein Geräusch von sich, eine Art Brummen, das sich anhörte, als würde er sich beklagen.

»Kann es... kann er sprechen?«

»Ich habe versucht, ihm Stimmbänder zu geben, aber das ist leider missglückt. Sprechorgane sind ein Merkmal höherer Lebewesen, genau wie Augen. Es ist sehr schwierig, Homunculi damit auszustatten. Deswegen habe ich bei den Spiegelmännern darauf verzichtet.«

Jackon unterdrückte ein Schaudern. »Darf ich mich setzen?«

»Natürlich.« Lady Sarka führte ihn zu einer Ecke der Bibliothek, wo ein Tisch mit zwei Ohrensesseln stand. Jackon nahm Platz. Er gab vor, zu schwach zum Stehen zu sein, was auch stimmte, aber nur zum Teil. In Wahrheit hatte er Primus’ Anblick nicht mehr ertragen.

Lady Sarka setzte sich mit raschelnder Robe in den anderen Sessel.

»Eigentlich bin ich hier, weil ich mit Euch sprechen muss«, begann er. »Ich habe heute Nacht geträumt. Dabei sollte ich doch nicht träumen. Wegen des Mittels, das Ihr mir gegeben habt.«

»Du hast es zum letzten Mal vor fünf Tagen bekommen.«

»Warum bekomme ich es jetzt nicht mehr?«

»Weil es den Schlaf stört. Wegen deiner Verletzung hast du dringend erholsamen Schlaf benötigt. Deshalb hat Doktor Addock darauf bestanden, dass du den Trank nicht mehr nimmst.«

»Und was ist mit Aziel?«

»Ich bin auch nicht glücklich mit Doktor Addocks Entscheidung. Aber er hätte andernfalls nicht für deine Genesung garantieren können.«

Sie legte ihre Hand auf seine – eine jener unerwarteten Berührungen, die sie ihm in der Anfangszeit seiner Ausbildung gelegentlich hatte zuteilwerden lassen, um ihn aufzumuntern oder zu ermutigen. Das letzte Mal, dass sie das getan hatte, lag schon eine Weile zurück, denn nach seinem verhängnisvollen Missgeschick in den Traumlanden war sie so wütend auf ihn gewesen, dass er schon befürchtet hatte, sie würde ihn hinauswerfen. Davon war jedoch nichts mehr zu spüren, im Gegenteiclass="underline" Seit dem Kampf und seiner Verwundung war sie so freundlich und fürsorglich zu ihm wie nie zuvor.

»Ich glaube nicht, dass du etwas zu befürchten hast«, fuhr sie fort. »Wenn Aziel dir etwas antun wollte, hätte er das längst getan.«