Wellcott gab ihm zu verstehen, dass er sich melden solle, falls er noch etwas brauchte. Nachdem der Diener gegangen war, setzte sich Jackon in einen Ohrensessel, denn der Marsch durch den Palast hatte ihn erschöpft. Ein wenig ratlos betrachtete er den Brieföffner, der auf dem Tischchen lag: versilbert, mit einem eingravierten Phönix versehen und vermutlich so viel wert wie der Wochenlohn eines Hafenarbeiters. Wer, bei der Gnade Tessarions, brauchte so etwas?
Noch vor drei Monaten war er ein bettelarmer Schlammtaucher gewesen, der wie eine Kakerlake in einem stinkenden Loch hauste – und nun das. Jackon wurde schwindelig, wenn er darüber nachdachte, wie sehr sich sein Leben seitdem verändert hatte.
Wenig später tauchte Umbra auf. »Darf ich reinkommen?«
»Klar.«
»Wir müssen ein paar Sachen besprechen. Du musst dich doch nicht schon wieder hinlegen, oder?«
»So schlecht geht’s mir auch wieder nicht.«
»Gut. Heute fangen die neuen Bediensteten an. Einen wirst du später kennen lernen. Sein Name ist Cedric. Er übernimmt Jocelyns Aufgaben und wird uns als Diener zur Verfügung stehen.«
»Ihr habt einen eigenen Diener?«
»Nicht ›ihr‹. Wir. Du gehörst jetzt dazu.«
Ja, er gehörte jetzt dazu. War gewissermaßen ein Kamerad des gefürchteten Corvas. Jackon schüttelte innerlich den Kopf. Daran würde er sich nie gewöhnen.
»Wann immer du etwas brauchst«, fuhr Umbra fort, »rufst du Cedric. Er kümmert sich darum.«
»Was ist mit Wellcott und Kendrick?«
»Sie sind nur noch heute und morgen hier. Die Herrin hat andere Aufgaben für sie.«
Jackon bedauerte es, dass die beiden gingen. Er mochte sie. »Heute Morgen hast du gesagt, du führst mich herum.«
»Später, wenn du dich ausgeruht hast«, bestätigte Umbra. »Es wird Zeit, dass ich dir den Rest des Hauses zeige.«
»Welchen Rest?«
»Na, die Teile, die du noch nicht kennst. Den Keller. Den Krähenturm. Die Privatgemächer der Herrin. Als ihr Leibwächter musst du dich überall auskennen.«
Ihm fiel die seltsame Gestalt in der alchymistischen Küche wieder ein. »Wer ist das eigentlich in dem alten Labor?«
»Wollte ich dir gerade erzählen. Das Anwesen hat einen neuen Bewohner. Er heißt Silas Torne.«
Jackon hätte nicht überraschter sein können. »Der Silas Torne?«
»Er arbeitet seit ein paar Tagen für die Herrin«, erwiderte Umbra. »Sein Haus ist abgebrannt, deshalb wohnt er hier. Was schaust du denn so? Kennst du ihn etwa?«
Jeder in der Grambeuge kannte den Alchymisten. Die Bewohner der Kanäle fürchteten ihn und flüsterten seinen Namen nur hinter vorgehaltener Hand, als wäre er ein böser Geist. Seit Jahren machte das Gerücht die Runde, Torne lauere Schlammtauchern auf und verschleppe sie in sein Labor, um abscheuliche Experimente an ihnen durchzuführen. »Nur vom Hörensagen«, erwiderte er und unterdrückte ein Schaudern.
»Ich fürchte, er tickt nicht mehr richtig seit der Sache mit Lucien. Geh ihm am besten aus dem Weg.«
»Lucien? Was hat Lucien damit zu tun?«
Umbra ging nicht darauf ein und sah sich stattdessen um. »Du hast noch gar nicht gesagt, wie du dein neues Zimmer findest.«
»Ich weiß nicht... Es ist so groß.«
»Ja. So ging es mir damals auch. Du gewöhnst dich daran.«
»Damals?«
»Als ich zur Herrin kam.«
»Wann war das?«
»Vor vier Jahren.«
Die Antwort überraschte Jackon. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass Umbra der Lady bereits seit ewigen Zeiten diente. »Und davor? Was hast du da gemacht?«
Die Leibwächterin stand vor dem Bücherregal und warf ihm einen mürrischen Seitenblick zu. »Du kannst es einfach nicht lassen, was?«
»Ich frage ja nur.«
Sie seufzte. »Na schön. Irgendwann erfährst du es sowieso. Ich komme aus der Grambeuge, genau wie du. Ich war eine Malumo. Der Name sagt dir hoffentlich was.«
»Die Bande aus dem Rattennest.«
»Keine Bande«, erwiderte Umbra unwirsch. »Eine Familie. Ein Clan, um genau zu sein. Fast zehn Jahre lang hat uns der Norden des Viertels gehört.«
Jackon konnte sich nur vage daran erinnern. Seit seiner Kindheit beherrschten Asher und die anderen Lumpensammler die Grambeuge. »Hat jeder in deiner Familie Kräfte wie du?«
»Nicht jeder. Aber einige schon. Fünf, mit mir. Wenig verglichen mit früher, als die Magie noch stark war. Vor zweihundert Jahren konnte angeblich der halbe Clan die Schatten beherrschen.«
»Was ist aus euch geworden?«
»Es kam zum Krieg mit den Dynes, einem verfeindeten Clan. Ich habe nie erfahren, was der Auslöser war, obwohl die Dynes später behaupteten, einer von uns sei bei ihnen eingedrungen und hätte mehrere ihrer Leute getötet. Vermutlich nur ein Vorwand, um uns anzugreifen. Sie kamen nachts. Niemand hat damit gerechnet, weswegen viele von uns im Schlaf abgeschlachtet wurden. Die anderen starben im Kampf oder verbrannten, als die Dynes unser Haus anzündeten.«
Erschüttert hörte Jackon zu. Ihm fiel wieder ein, dass er damals von dem Massaker gehört hatte. Die Clans und Banden der Grambeuge hatten sich früher ständig bekämpft – Alltag in den Straßen zwischen dem Chymischen Weg und dem Hafen, weshalb er dem Vorfall keine besondere Beachtung geschenkt und ihn wieder vergessen hatte. Doch wie schrecklich musste diese Nacht für Umbra gewesen sein. »Und du?«, fragte er zögernd. »Wie hast du überlebt?«
»Die Herrin hat mich gerettet.«
»Die Herrin?«
»Wir kannten uns. Ein paar Monate vorher wollte sie mich anwerben, denn sie hatte von meinen Fähigkeiten gehört. Ich habe abgelehnt, aber sie ließ nicht locker und lud mich hin und wieder in den Palast ein. Später hat sie zugegeben, dass sie mich beobachten ließ. So erfuhr sie noch in der gleichen Nacht vom Angriff der Dynes und schickte Corvas los, um mich zu retten. Er kam gerade rechtzeitig. Ein vergifteter Dolch hatte mich verletzt, und ich wäre gestorben, wenn er mich nicht zur Herrin gebracht hätte.«
»Hat sie dich geheilt?«
»Sie gab mir ein Gegenmittel und hat sich um mich gekümmert, bis ich wieder gesund war.«
Jackon hatte sich immer gefragt, woher Umbras bedingungslose Treue zu Lady Sarka kam. Allmählich verstand er es. »Und anschließend bist du bei ihr geblieben?«
»Ich konnte nirgendwohin. Die Dynes hatten meinen Clan ausgelöscht. Ich bin die letzte Malumo.«
Falls die Leibwächterin Schmerz oder Trauer bei den Erinnerungen an ihre Familie empfand, so hatte sie sich nichts anmerken lassen, während sie davon erzählte. Jetzt bemerkte Jackon jedoch, wie sich für einen Moment ihre Augen verdunkelten. Ich bin die letzte Malumo. Er schwieg betroffen.
»So«, meinte Umbra. »Jetzt kennst du meine Geschichte.«
Jackon wusste nicht, was er sagen sollte. Er räusperte sich verlegen. »Und was ist dann passiert? Hast du dich gerächt?«
»Die Frage kannst du dir selbst beantworten. Du weißt doch, was damals geschehen ist.«
»Lady Sarka hat die Clans vernichtet.«
»Sie wurden ihr zu mächtig, als es die Malumos nicht mehr gab. Sie hat sie der Reihe nach zerschlagen. Auch die Dynes.«
Umbra sagte es nicht ausdrücklich, doch Jackon konnte heraushören, dass sie beim Kampf gegen die Clans ihre Rache bekommen hatte. Er stellte fest, dass er die Leibwächterin nun mit neuen Augen sah. Andere an ihrer Stelle wären vermutlich an der Trauer zerbrochen, Umbra jedoch lebte ihr Leben weiter, obwohl sie wahrscheinlich noch einsamer war als er. Dafür bewunderte er sie. »Erzählst du mir auch, warum Corvas und Amander hier sind?«
»Nein. Die Märchenstunde ist zu Ende«, antwortete sie, wieder so mürrisch wie eh und je. »Und du solltest dich endlich hinlegen. Wenn ich dich später abhole, will ich nicht hören, dass du müde bist, klar?«
Er griff nach seinen Krücken und stand mühsam auf, während sie zur Tür ging.