»Umbra?«
»Was ist denn noch?«
»Warum gibst du nicht endlich zu, dass du mich magst?«, fragte er grinsend.
Sie schnaubte unwillig. »Bis später, du Kanalratte.«
11
Klarträume
Jackon hätte nicht für möglich gehalten, dass es jemanden gab, der noch steifer, blasierter und herablassender war als Jocelyn – bis Cedric ihn eines Besseren belehrte.
Der neue Diener tauchte auf, kurz nachdem Jackon von seinem Rundgang mit Umbra zurückgekommen war. Er trug einen schwarzen Rock mit polierten Knöpfen und besaß einen penibel gestutzten Kinnbart, der besser zu einem Patrizier als zu einem Bediensteten gepasst hätte. Kühl stellte er sich Jackon vor und brachte ihm anschließend das Abendessen aufs Zimmer: Gemüsesuppe, ofenwarmes Brot, Butter, Hartkäse und Kochschinken. Mit formvollendeter Eleganz stellte er die Speisen auf das Tischchen und wünschte einen guten Appetit.
Cedric verfügte über geschliffene Umgangsformen und war überaus höflich. Gleichzeitig gelang ihm das Kunststück, Jackon spüren zu lassen, dass er ihn seiner Dienste für unwürdig erachtete. Jede Geste, jedes Wort, jeder Blick triefte geradezu vor Arroganz.
Das Ärgerliche dabei war, dass Cedric nur ihn so behandelte. Jackon hatte ihn beobachtet: Umbra, Corvas und Amander gegenüber verhielt sich der Diener so freundlich, dass es schon an Unterwürfigkeit grenzte. Er hatte den Verdacht, Cedric hatte irgendwie erfahren, woher er stammte und dass er einst ein Schlammtaucher gewesen war.
In finsterer Stimmung verzehrte Jackon sein Abendbrot. Um den Diener zu ärgern, schickte er ihn den Salzstreuer holen. Als Cedric zurückkam, stellte Jackon den Streuer demonstrativ neben seinen Teller, ohne ihn zu benutzen. Cedrics Blick nach zu schließen hatte er damit einen neuen Feind gewonnen, aber das war ihm egal. Er war jetzt ein Leibwächter Lady Sarkas und hatte Respekt verdient.
Kurz vor Sonnenuntergang kam Umbra und brachte ihn mit einem Schattentor ins geheime Zimmer. Lady Sarka war noch nicht da, also setzte er sich auf die Couch und wartete.
Es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten. Ein anstrengender Tag lag hinter ihm. Umbra hatte ihn im Anwesen herumgeführt und ihm jene Flügel, Zimmer und verborgenen Treppen gezeigt, die nur Lady Sarka und ihren Vertrauten zugänglich waren: ihre Privatgemächer; das Dachgeschoss mit dem Krähenturm, wo Corvas die Botschaften seiner geflügelten Spione empfing; und schließlich die bizarren Glashöhlen tief unter dem Palastkeller mit den Laboren der Lady. Schaudernd dachte Jackon an die papiernen Spindeln, die wie Wespennester in Nischen und Felsspalten hingen, Dutzende von Kokons, in denen neue Homunculi heranwuchsen. Ersatz für die vielen toten Spiegelmänner.
Mehr als zwei Stunden hatte der Rundgang gedauert – zu lange für Jackon, der noch längst nicht bei Kräften war. Seine Verletzung hatte wieder angefangen zu schmerzen, weswegen ihm Doktor Addock eine Spritze geben musste. Die Morphiumdosis war nicht sonderlich hoch gewesen, dennoch machte sie ihn schläfrig und matt.
Irgendwann hörte er Schritte und schreckte aus seinem Dämmerzustand auf. Eine Gestalt trat in den Lampenschein.
»Verzeih, dass du warten musstest«, erklang die sanfte Stimme von Lady Sarka. »Ich wurde aufgehalten. Es gab Schwierigkeiten im Magistrat. Dinge, die sich leider nicht aufschieben ließen.«
»Macht nichts«, murmelte er und wünschte, sein Kopf wäre klarer.
Sie setzte sich in den Ohrensessel. »Können wir anfangen?«
Er nickte.
»Deine Ausbildung ist fast zu Ende, Jackon. Du hast gelernt, dich in den Träumen zurechtzufinden und die Tür deines Seelenhauses zu öffnen. Du kannst die Träume anderer Menschen beeinflussen und weißt, wie man springt. Um gegen Aziel zu bestehen, musst du nur noch eines lernen. Allerdings etwas sehr Schwieriges.«
»Was?«, fragte er.
»Wie man in den Träumen kämpft.«
Jackon hatte mit so etwas gerechnet. Er schluckte nervös.
»Alben bekämpfen ihre Gegner, indem sie Albträume formen und ins Gefecht schicken«, fuhr Lady Sarka fort. »Aziel ist ein Meister darin. Auf dem Gipfel seiner Macht konnte er ganze Horden von Nachtmahren erschaffen. Wenn du ihn bezwingen willst, musst du ihm ebenbürtig werden.«
»Aber ich kann keine Träume erschaffen.«
»Doch, kannst du«, widersprach sie. »Jeder Mensch kann das. Wenn du schläfst, tust du nichts anderes. Was glaubst du, woher all die Träume kommen, die du in deinem Seelenhaus gesehen hast?«
»Ich dachte, sie entstehen aus dem silbernen Zeug, das die Boten in die Seelenhäuser bringen. Aus der Traumsubstanz«, fügte er hinzu, als ihm das Wort wieder einfiel.
»Die Traumsubstanz ist nichts als rohe Materie. Dein Verstand ist es, der ihr Form gibt und sie zu Träumen macht. Genauer gesagt, dein Unterbewusstsein.«
»Was ist das?«
»Der Bereich deiner Seele, der deine geheimen Wünsche und verborgenen Ängste enthält.«
Jackon dachte an all die Dinge, die üblicherweise seine Träume bevölkerten, an die Ghule und Fratzen und unheimlichen Schatten aus den Tiefen der Katakomben. Nicht gerade ein angenehmer Ort, sein Unterbewusstsein.
»Du musst lernen, diesen Vorgang zu kontrollieren«, sagte Lady Sarka. »Es funktioniert genauso wie Springen. Nur dass du dich nicht auf einen Ort konzentrierst, sondern mit purer Willenskraft Träume und Nachtmahre formst.«
Allmählich verstand er, worauf sie hinauswollte. »Brauche ich dafür nicht Traumsubstanz?«
»Natürlich. Ohne Traumsubstanz keine Träume. Deswegen musst du dir welche beschaffen. Aber keine verbrauchte, aus der bereits Träume entstanden sind. Es muss frische sein.«
»Soll ich sie etwa den Boten stehlen?« Schaudernd dachte er an die geflügelten, moskitoähnlichen Geschöpfe, obwohl er inzwischen wusste, dass sie harmlos waren.
»Es ist einfacher, wenn du in ein Seelenhaus eindringst, in das die Boten gerade neue Traumsubstanz gebracht haben. Eine Hand voll sollte genügen. Du nimmst sie auf und isst sie.«
»Ich soll sie essen?«, fragte Jackon irritiert.
»Du musst sie jederzeit einsetzen können. Dafür muss sie ein Teil deiner Seele werden.«
Bei der Vorstellung, sich die seltsame, quecksilbrige Substanz in den Mund zu stopfen, empfand er Ekel. »Geht das nicht anders?«
»Nein. Jetzt versuch zu schlafen. Denk an das, was ich gesagt habe, wenn du in deinem Seelenhaus bist. Beschaffe dir Traumsubstanz und forme Träume daraus.«
»Was, wenn ich Aziel begegne?«
»Wahrscheinlich versteckt er sich in seinem Palast. Halte dich davon fern, dann geschieht dir nichts.«
Jackon befürchtete, nach all diesen komplizierten Erklärungen würde er Mühe haben, einzuschlafen. Doch kaum war Lady Sarka verstummt, kehrte seine Müdigkeit zurück. Die Lady dimmte das Licht und schaltete das Grammophon ein. Beruhigende Musik erklang. Wenig später fielen ihm die Augen zu.
In seinem Traum durchlebte er noch einmal den Angriff der Ghule und seine verzweifelte Flucht durch den Palast. Er war aus der Übung, weswegen es eine Weile dauerte, bis ihm klar wurde, dass nichts davon wirklich geschah. Als er sich bewusst machte, dass er nur träumte, bezwang er seine Angst und ignorierte die Gefahr. Die Ghulhorde verschwand, und er wanderte einsam und allein durch ein schattenhaftes Abbild des Anwesens.
Kurz darauf fand er die Tür seines Seelenhauses. Sie stand mitten in der Eingangshalle, eine schlichte hölzerne Pforte, umgeben von blauem Licht und tiefen Schatten. Er musste sich darauf konzentrieren, damit sie nicht vor seinen Augen verschwand, wie es bei seinen früheren Versuchen, sie aufzuspüren, der Fall gewesen war.