Jackon legte die Hand auf den Türknopf aus Messing, zögerte jedoch, sie zu öffnen. Was, wenn Lady Sarka sich irrte? Wenn Aziel nur darauf wartete, dass er sein Seelenhaus verließ, um ihn zu vernichten? Seine Furcht vor dem Herrn der Träume kehrte zurück, beinahe so heftig wie in jenem Moment, als Aziel ihn packen wollte und ihn nur das Drudenfußamulett vor dem sicheren Tod bewahrt hatte.
Nein. Lady Sarka hatte Recht. Alles sprach dafür, dass Aziel zu schwach war, um ihn zu töten. Andernfalls hätte er es längst getan.
Entschlossen drehte er den Messingknauf und stieß die Tür auf.
Es ging nicht. Irgendetwas blockierte sie von außen, sodass er sie nur ein paar Zoll öffnen konnte.
Jackon spähte durch den Spalt. Strähnige Ranken verliefen kreuz und quer vor dem Ausgang seines Seelenhauses und bildeten ein wurzelartiges Geflecht, das wie ein Netz über der Pforte lag.
So etwas hatte er noch nie gesehen. Vorsichtig berührte er eine der Ranken. Sie fühlte sich an wie Holz, schien aber nicht sehr stabil zu sein. Er musste nur mit den Fingerkuppen darüberreiben, dass winzige Späne abblätterten.
Ohne Zweifel Aziels Werk. Plötzlich wallte Wut in ihm auf. Das Haus war die Zuflucht seiner Seele. Niemand hatte das Recht, es zu verändern oder ihn gar darin einzusperren. Er zog mit aller Kraft an der Ranke, sie riss ab und zerbröckelte. Anschließend stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Weitere Ranken zerrissen, schließlich gab das Geflecht nach, die Tür ging auf, und er stolperte, getragen von seinem eigenen Schwung, nach draußen.
Er rappelte sich auf und betrachtete sein Seelenhaus. Das Wurzelwerk befand sich nicht nur vor der Tür, auch vor den Fenstern, den Wänden, über dem Dach. Es überzog das ganze Gebäude, ein bizarres Gebilde aus Strängen, teilweise so dünn wie Bindfäden, teilweise so dick wie sein Unterarm, die hier und da knotige Nester bildeten und aus dem Mauerwerk sprossen.
Aziel wollte offensichtlich verhindern, dass er sein Seelenhaus verließ. Was das bedeutete, wurde Jackon erst nach einer Weile klar: Der Herr der Träume fürchtete ihn. Seine Niederlage musste ihn so sehr geschwächt haben, dass er eine Konfrontation vermeiden wollte.
Aus irgendeinem Grund machte Jackon diese Feststellung noch wütender. Er begann, Ranke für Ranke abzureißen, um das Wurzelwerk zu zerstören. Nach wenigen Augenblicken stellte er jedoch fest, dass er sich die Mühe sparen konnte. Die Stränge zerbröckelten von allein. Dass er beim Öffnen der Tür ein Loch in das Rankennetz gerissen hatte, bewirkte offenbar, dass das gesamte Gebilde abstarb. Es dauerte nicht lange, bis von den Strängen nur noch Haufen aus braunen Partikeln übrig waren, die der Wind verwehte.
Das Geflecht war ein Witz. Hatte Aziel wirklich geglaubt, er könnte ihn damit aufhalten?
Oder hatten seine Kräfte für ein stabileres Netz nicht ausgereicht?
Jackon blickte sich um und entdeckte eine Turmspitze, die sich in der Nähe über die Dächer erhob – das höchste Gebäude weit und breit. Er konzentrierte sich, schloss die Augen... und sprang. Im nächsten Moment fand er sich auf der Turmspitze wieder und hielt sich an der Wetterfahne fest, damit er nicht auf dem Kupferdach abrutschte.
Der immerwährende Wind zerzauste seine Haare. Silberstaub tanzte um die Kamine der Seelenhäuser und legte einen schimmernden Schleier über die stille Stadt, so weit das Auge reichte. Bilder und Lichter flackerten in den Fenstern, winzige Ausschnitte tausendfacher Träume, mal ausgelassen und fröhlich, mal gespenstisch und bedrückend.
In der Ferne, so winzig klein, dass er ihn kaum erkennen konnte, stand Aziels Palast.
Irgendwo in den Tiefen des Schlosses, in seinen labyrinthischen Korridoren und Sälen, verbarg sich der Herr der Träume, versteckte sich vor ihm. Aziel hatte versucht, ihn zu töten, und würde es jederzeit wieder tun, wenn er die Macht dazu hätte, doch zum ersten Mal erfüllte Jackon dieser Gedanke nicht mit Furcht. »Hol mich doch, wenn du kannst!«, schrie er und verspürte ein wildes Triumphgefühl, als seine Stimme über die Dächer schallte. Sollte Aziel ihn doch herausfordern! Diesmal würde er nicht davonlaufen, sondern sich dem Kampf stellen, und dann würde sich zeigen, wer von ihnen der Stärkere war.
Plötzlich konnte er es gar nicht abwarten, gegen Aziel anzutreten.
Doch er durfte jetzt nichts überstürzen. Sein Leichtsinn hatte ihn schon einmal beinahe das Leben gekostet. Aziel mochte zwar geschwächt sein, aber er war immer noch der Herr der Träume. Wenn Jackon eine Chance gegen ihn haben wollte, musste er sich vorbereiten.
Er hielt Ausschau nach einem Seelenhaus, dessen Fenster dunkel waren. Darin fand er möglicherweise unverbrauchte Traumsubstanz.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sich die Stadt seit seinem letzten Besuch verändert hatte. Nicht sehr viel, aber ausgeprägt genug, dass es einem aufmerksamen Beobachter nicht entging. Viele Seelenhäuser waren beschädigt: Dächer und Mauerwerk wiesen Risse auf, manche so breit, dass er darin das Flackern der Träume sehen konnte. Eines war sogar schon so verfallen, dass die Träume ins Freie sickerten und als geisterhafte Schatten durch die Gassen huschten. Andere schienen auf seltsame Weise zu wuchern. Jackon wusste, dass sich Seelenhäuser verändern konnten, aber normalerweise ging das sehr langsam vonstatten, nicht so wie hier. Die betroffenen Häuser hatten offenbar in kurzer Zeit immer neue Mauervorsprünge, Erker und Anbauten herausgebildet, wie rasant wachsende Korallenriffe. Die meisten davon breiteten sich in die umliegenden Gassen und Straßen aus, manche jedoch wucherten um benachbarte Seelenhäuser herum, wodurch sie diesen beträchtliche Schäden zufügten oder sie gar, wie in einem Fall, regelrecht absorbierten.
Auch die Boten und Sammler verhielten sich nicht so, wie er es gewohnt war. Die schwammartigen Sammler zogen normalerweise einzeln oder zu zweit von Haus zu Haus und saugten die verbrauchte Traumsubstanz auf, und die geflügelten Boten ließen frische in Form silbriger Tropfen in die Kamine fallen. Viele Sammler jedoch krochen ziellos durch die Gassen, als wüssten sie nicht mehr, was ihre Aufgabe war. Manche Boten flogen über den nachtblauen Himmel und ließen die Traumsubstanz achtlos fallen oder bevölkerten Dächer und Simse, ohne ihrer Arbeit nachzugehen.
Jackon konnte sich darauf keinen Reim machen. Waren diese Veränderungen Auswirkungen von Aziels Niederlage? War der Herr der Träume nicht mehr im Stande, auf sein Reich aufzupassen? Jackon beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Doch zuerst musste er etwas anderes überprüfen – etwas, das er sich schon vor Tagen vorgenommen hatte.
Er schloss die Augen und dachte an Liam, stellte sich das Gesicht seines Freundes, Liams Stimme und sein Wesen so genau er konnte vor. Ließ die Wetterfahne los und sprang.
Er landete in einer Straße irgendwo in der Stadt. Dort, wo er eine Lücke, ein klaffendes Loch zwischen den Seelenhäusern erwartet hatte, stand zu seiner Überraschung eine weiß getünchte Sternwarte.
Wieso war Liams Seelenhaus noch da?
Es hätte verschwunden sein müssen. Es war ein Teil der Seele – wenn diese starb, müsste es sich nach den Gesetzen der Logik im Augenblick des Todes in Luft auflösen. Warum also stand die Sternwarte da, als wäre nichts geschehen?
Weil Liam in Wahrheit noch am Leben war?
Jackons Herz machte einen Sprung, als ihn jähe Hoffnung durchströmte. Doch schon im nächsten Augenblick kämpfte er sie nieder und ließ nicht zu, dass sie sich festsetzte. Er fand sich allmählich damit ab, Liam nie wiederzusehen. Wenn er anfing, an Liams Tod zu zweifeln, würde die Trauer nie ein Ende haben.
Es musste eine andere Erklärung geben. Er spähte durch die Fenster und sah totenstille Zimmer und Flure. Nirgendwo die kleinste Spur eines Traums. Die Sternwarte war so leer, wie ein Seelenhaus nur sein konnte. Und das nicht erst seit gestern.