Nein, Liam war tot, ganz eindeutig. Dass sein Seelenhaus noch nicht verschwunden war, lag vermutlich an den seltsamen Veränderungen in der Stadt. Vielleicht gab es Geschöpfe, die die Aufgabe hatten, die Häuser verstorbener Seelen zu beseitigen, und die genau wie die Boten und Sammler verrücktspielten, weswegen sie sich nicht um die Sternwarte kümmerten. Oder es dauerte stets eine Weile, bis ein Seelenhaus verschwand. Liams Tod lag schließlich erst eine gute Woche zurück. Vielleicht musste noch mehr Zeit verstreichen.
Jackon grübelte darüber nach und streifte währenddessen durch die Sternwarte. Er ging von Zimmer zu Zimmer und hoffte, etwas zu finden, das an Liam erinnerte, den Rest eines Traums, aber da war nichts, natürlich nicht. Das Seelenhaus glich einer Hülle, abgestorben und ausgehöhlt wie die Muscheln, die man manchmal am Flussufer fand. Und doch war Jackon, als könnte er manchmal die Gegenwart seines Freundes spüren, einen winzigen Augenblick nur, bevor drückende Leere in die Zimmer zurückkehrte. Machte er sich wieder einmal etwas vor? Er wusste es nicht, und in diesem Moment spielte es keine Rolle für ihn. Denn die Sternwarte war alles, was von Liam geblieben war.
Er blieb viel länger, als er vorgehabt hatte – beinahe zu lange. Er hatte sich so sehr in Erinnerungen verloren, dass er fast seine eigentliche Aufgabe vergaß. Mit einem stummen Gruß verabschiedete er sich von Liam und versprach, wiederzukommen, als er die Sternwarte verließ.
Längst nicht alle Seelenhäuser, die Jackon sah, wiesen Schäden auf – die meisten waren von den Veränderungen gar nicht betroffen. Auch ein Großteil der Boten und Sammler ging nach wie vor seinen Aufgaben nach, sodass Jackon bald ein Seelenhaus fand, in das ein Bote gerade frische Traumsubstanz gebracht hatte. Er öffnete die Tür und warf einen Blick hinein. Es enthielt noch keine Träume. Der silbrige Stoff hatte sich gleichmäßig auf dem Boden verteilt.
Zögernd tauchte er seine Hände hinein und schöpfte etwas davon auf. Die Traumsubstanz fühlte sich kühl und seidig an, als sie durch seine Finger rann. Ganz und gar nicht schleimig oder Ekel erregend. Auch der Geruch war angenehm. Seltsam fremdartig, aber nicht abstoßend.
Er führte die Hände zum Mund und trank die Substanz Schluck für Schluck. Zuerst schmeckte sie nach gar nichts. Aber dann... Jackon war, als würden sich schlagartig alle Geschmacksrichtungen der Welt in seinem Mund entfalten, hunderttausend Aromen, die auf seiner Zunge explodierten. Er taumelte rückwärts, stolperte über die Türschwelle, fiel mit den Armen nach Halt rudernd hin – und wachte auf.
Ächzend fuhr er auf und stellte nach einem Moment der Verwirrung fest, dass er auf der Couch lag. Er betrachtete seine Hände und erwartete, Traumsubstanz würde daran kleben, aber natürlich war das nicht der Fall. Trotzdem schmeckte er sie nach wie vor. Mit zitternden Händen griff er nach der Karaffe und trank, bis der Geschmack verschwunden war.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Lady Sarka.
Jackon stellte die Karaffe zurück, rieb sich die Augen und schüttelte sich. Es dauerte einen Moment, bis er sprechen konnte. »Die Traumsubstanz... Ich habe davon getrunken.«
»Wie hat es sich angefühlt?«
»Schwer zu beschreiben...«
»Du bist davon aufgewacht, richtig?«
Jackon nickte. Normalerweise verblassten die Geschehnisse in den Träumen kurz nach dem Aufwachen. An dieses Erlebnis würde er sich jedoch noch lange erinnern.
»Das macht nichts. Sie bleibt eine Weile in dir. Du kannst beim nächsten Mal versuchen, sie zu benutzen.«
»Irgendwas geschieht mit der Stadt«, sagte er. »Die Seelenhäuser gehen kaputt. Und die Boten und Sammler machen nicht mehr, was sie sollen.«
»Ja. Das war zu erwarten.«
Er blickte sie fragend an.
»Die Alben sind fort«, erklärte Lady Sarka. »Nun gibt es niemanden mehr, der die Träume hütet.«
»Was ist mit Aziel?«
»Er allein ist dafür zu schwach.«
»Heißt das, die Stadt der Seelen zerfällt, und es gibt bald keine Träume mehr?«
»Unsinn. Träume wird es immer geben.«
»Aber wenn die Seelenhäuser Löcher bekommen...«
»Das ist nichts, weswegen du dir Sorgen machen musst«, fiel sie ihm ins Wort. »Du kümmerst dich einzig und allein um deine Ausbildung, hast du verstanden?«
Sie schrie nicht, aber da war ein Ton in ihrer Stimme, den er zu fürchten gelernt hatte. »Ja«, murmelte er.
»Gut. In Zukunft ist es nicht mehr nötig, dass du hierherkommst. Du kannst allein üben, in deinem Zimmer. Du weißt ja jetzt, was du zu tun hast. Oder?«
»Träume erschaffen.«
»Du übst, so oft du kannst. Jede Nacht. Immer dann, wenn du schläfst. Da es noch einige Wochen dauern wird, bis du gesund bist, hast du ausreichend Gelegenheit dazu. Einmal pro Woche kommst du zu mir und berichtest, wie du vorankommst.«
Er nickte eingeschüchtert.
»Bald wirst du mächtig sein, Jackon«, sagte sie leise. »Mächtiger noch als Corvas und Umbra. Denk immer daran.«
Und da war ein Glitzern in ihren Augen, das ihn schaudern ließ.
12
Lucien und Caitlin
Der Wind wirbelte Asche und Staub auf und legte einen Schädelknochen frei. Augenhöhlen starrten zum glühenden Himmel hinauf. In der Nähe lagen noch mehr Gebeine: Rippen, Wadenbeine und zersplitterte Hirnschalen. Sie bedeckten die Talsohle bis zu den dunstverhangenen Felsenkämmen in der Ferne und ragten aus dem Erdreich hervor wie abgestorbenes Wurzelwerk.
Die Böen waren heiß und rochen nach Schlacke, nach Schwefel und verbranntem Gestein. Vivana kniff die Augen zusammen, während sie über die Ebene blickte. Die meisten Knochen wirkten menschlich, soweit sich das bei dem schlechten Zustand, in dem sie sich befanden, beurteilen ließ. Manche jedoch waren viel zu groß und wiesen seltsame Auswüchse auf, dornartige Stacheln, die aus Rückenwirbeln wuchsen, oder Hörner und zusätzliche Gliedmaßen. Wie diese Wesen zu Lebzeiten ausgesehen hatten, stellte sie sich lieber nicht vor.
»Was ist das?«, wandte sie sich an Lucien. »Ein altes Schlachtfeld?«
»Sieht ganz so aus.«
»Wer hat hier gekämpft?«
Lucien zuckte mit den Schultern und blickte zu dem Dämon, der am Rand des Knochenfelds wartete, wo ihr Vater auf ihn aufpasste. »Müssen wir da durch?«
»Nein. Der Schreiende Fluss liegt hinter den Hügeln.« Das war das erste Mal seit ihrem Aufbruch, dass der Dämon sprach. Offenbar hielt er sich an Luciens Befehle. Zumindest hatte er bis jetzt weder versucht zu fliehen noch sie anzugreifen.
Lucien forderte das Geschöpf auf, vorauszugehen, und sie folgten ihrem unheimlichen Führer im Abstand von einigen Schritten die felsige Anhöhe hinauf. Ruac watschelte neben ihnen her. Obwohl er mehr kroch als ging, hielt er mühelos mit ihnen Schritt – was Vivana zu schätzen wusste, denn der Tatzelwurm konnte mit der Zeit ziemlich schwer werden.
Schon seit einer Weile hatten sie keine Ruinen mehr gesehen. Sie wanderten durch Ödland, durch staubtrockene Täler und Hügel aus rostroten Felsen, in denen es nichts gab, nicht einmal verdammte Seelen. Das einzige Geräusch war der Wind, der über die Felszacken pfiff.
Vivana dachte über den Ghulangriff nach. In den vergangenen zwei Tagen war so viel geschehen, dass sie erst jetzt dazu kam, sich mit den vielen ungeklärten Fragen und Rätseln jener Nacht auseinanderzusetzen. Warum war es überhaupt zu dem Angriff gekommen? Es hatte etwas mit Jackon zu tun, Liams Freund, der offenbar ein schreckliches Geheimnis hütete, weswegen Aziel, der Herr der Träume, ihn töten wollte. Doch das war im Grunde schon alles, was sie wusste.
Sie sprach Lucien darauf an. Der Alb nahm sich die Zeit und erklärte ihr ausführlich, wer Jackon wirklich war, über welche Kräfte er verfügte und warum Aziel versucht hatte, ihn zu ermorden. Nun ergab so manches einen Sinn.