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»Wofür braucht Lady Sarka einen Traumwanderer?«, fragte Vivana.

»Tja. Das ist die Frage. Ich konnte noch nicht herausfinden, was sie im Schilde führt. Aber ich fürchte, es ist nichts Gutes.«

Vivana dachte lange über Luciens Geschichte nach. Ein Detail beschäftigte sie besonders. »Wohin sind sie gegangen?«

»Wer?«

»Die Alben. Dein Volk. Du hast gesagt, sie hätten unsere Welt verlassen, nachdem der Harlekin König geworden ist.«

Lucien nickte. »Sie haben sich an einen Ort zurückgezogen, der uns Schattenwesen eine Zuflucht bietet, wenn wir der Welt der Menschen überdrüssig sind.«

Vivana dachte daran, wie Tante Livia das Knochenorakel geworfen hatte. Sie hat es gewusst. »Was ist das für ein Ort?«

»Eine Welt, die eurer ähnelt und gleichzeitig ganz anders ist. Ein Reich hinter der Wirklichkeit.«

»Die Anderwelt.«

»Ja, so wird sie manchmal genannt.«

»Und dort gibt es genug Magie für euch.«

»Mehr jedenfalls als in eurer Welt«, sagte Lucien.

»Stimmt es, dass es am Fortschritt liegt, dass die Magie verschwindet? An den vielen Maschinen überall?«

»Daran«, bestätigte der Alb. »Am Lärm eurer Städte. Am künstlichen Licht, durch das es keine richtige Nacht mehr gibt. Und an dem Umstand, dass eure Wissenschaft langsam, aber unausweichlich jedes Geheimnis zerstört. Im Grunde sind Männer wie dein Vater dafür verantwortlich.«

Vivana blickte über die Schulter. Ihr Vater war etwas zurückgefallen, weil er wieder einmal damit beschäftigt war, sich Notizen zu machen. Er schrieb alles auf, was er im Pandæmonium beobachtete, vielleicht weil er hoffte, doch noch eine wissenschaftliche Erklärung für die Existenz dieses Ortes zu finden. Durch das Heulen des Windes konnte er unmöglich hören, was sie mit Lucien besprach. Besser so, dachte sie. Andernfalls hätte er nur wieder Streit angefangen. »Hasst du ihn deswegen?«, fragte sie den Alb.

»Nein. Was passiert, passiert. Es ist der Lauf der Welt. Daran kann man nichts ändern. Dein Vater tut nur, was er für richtig hält.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Der Wind ließ etwas nach, denn sie durchquerten eine Kluft, die von hohen Felskämmen flankiert wurde. Magmaartige Wolkenschlieren bewegten sich am Himmel.

»Bist du der einzige Alb, der noch da ist?«, fragte Vivana schließlich.

»Ja. Außer Aziel natürlich.«

»Wieso bist du geblieben? Wärst du nicht lieber bei deinem Volk?«

»Ich verstehe mich besser mit euch Menschen«, erwiderte Lucien mit einem seltsamen Lächeln.

Sie erinnerte sich an etwas, das er am Morgen nach dem Ghulangriff gesagt hatte. »Hat das etwas mit der Frau zu tun?«

»Was meinst du?«

»Die Frau, die dir einst viel bedeutet hat. Und an die ich dich erinnere.«

»Du hast ein verteufelt gutes Gedächtnis«, stellte er fest. »Ja, hat es.« Lucien zögerte und fügte schließlich hinzu: »Ihr Name war Caitlin. Und du siehst ihr wirklich sehr ähnlich. Zumindest auf den ersten Blick.«

»Bin ich vielleicht mit ihr verwandt oder so?«

»Nicht, dass ich wüsste. Die Ähnlichkeit ist wohl einfach Zufall.«

Vivana hatte sich gefragt, ob der Alb möglicherweise etwas für sie empfand, Gefühle, die eigentlich einer anderen Person galten – dieser Frau namens Caitlin. Doch inzwischen war sie sich ziemlich sicher, dass Lucien lediglich freundschaftliche Sympathie für sie hegte. »Was ist passiert?«

»Nicht so laut. Es ist besser, wenn er so wenig wie möglich über uns erfährt.« Er meinte den Dämon, der stehen geblieben war, weil sich die Kluft gabelte. Die Kreatur entschied sich für den linken Weg und ging weiter. Die Augen an ihrem Hinterkopf beobachteten sie unablässig.

»Caitlin und ich verliebten uns ineinander«, fuhr Lucien leiser fort. »Allerdings verbieten es die Gesetze der Alben, dass wir uns mit Menschen einlassen. Als mein Volk davon erfuhr, stellte man mich vor die Wahl, sie entweder zu verlassen oder in die Verbannung zu gehen. Ich entschied mich für Caitlin und wurde ausgestoßen.«

»War Aziel damals schon euer Herrscher?«

»Ja. Er hat den Bann über mich verhängt.«

»Ich dachte, du hast bis zu der Sache mit Jackon für ihn gearbeitet.«

»Nach meiner Ächtung wohnte ich mit Caitlin in Bradost und schlug mich als Dieb durch. Aziel begriff irgendwann, dass ihm ein Alb, der unter den Menschen lebt, nützlich sein könnte. Er lockerte den Bann, und im Gegenzug lieferte ich ihm Informationen oder führte hin und wieder Aufträge für ihn aus.«

»Und darauf hast du dich eingelassen? Warst du nicht wütend auf ihn?«

»Auch die größte Wut kühlt irgendwann ab. Und hundertfünfzig Jahre sind eine lange Zeit, sogar für uns Alben. Ich war einsam.«

»Hundertfünfzig Jahre?«, wiederholte Vivana. »So lange ist das schon her? Aber das heißt ja, dass Caitlin... dass sie...« Sie brachte es nicht über sich, den Satz zu beenden.

»Dass sie tot ist, richtig. Sie wurde alt und starb, wie Menschen es nun einmal tun.«

Vivana schwieg. Sie kam sich so plump vor. Dass Caitlin nicht mehr lebte, war schließlich offensichtlich.

»Mach nicht so ein Gesicht«, sagte Lucien lächelnd. »Es ist ja nicht deine Schuld.«

»Vermisst du sie?«

»Sehr. Aber noch schlimmer ist, dass meine Erinnerung an sie von Jahr zu Jahr schwächer wird.«

»Hilfst du mir deswegen? Damit du dich wieder an sie erinnerst?«

»Ja. Ich muss dich nur ansehen, und mir fallen zahllose Dinge ein, von denen ich glaubte, dass ich sie längst vergessen hätte. Kleinigkeiten. Zum Beispiel, wie sie ihr Haar zurückgestrichen hat, wenn sie... Was gibt’s da zu lachen?«, fuhr er den Dämon an.

Vivana hatte nicht auf die Kreatur geachtet und bemerkte erst jetzt, dass sie sich zu ihnen umgedreht hatte. Beide Mäuler formten zahnbewehrte Sicheln, aus denen kehliges, zweistimmiges Kichern drang. »Nichts. Ich habe eine Schwäche für rührende Liebesgeschichten, das ist alles.«

Vivana hatte noch nie gesehen, dass Lucien sich so schnell bewegte. Er sprang vor, fegte dem Dämon mit einem Tritt die Beine weg und stemmte ihm ein Knie auf die Brust, als das Geschöpf zu Boden fiel. Sein Messer lag am Hals des Wesens. »Und ich habe eine Schwäche dafür, wenn der Böse am Ende umgebracht wird. Du auch?«

Der Dämon knurrte, aber er wehrte sich nicht.

»Du weißt, was passiert, wenn du uns noch mal belauschst«, sagte Lucien barsch und ließ von ihm ab. »Jetzt steh auf, na los.«

Umständlich erhob sich die Kreatur. Ihre Augen funkelten böse, bevor sie sich abwandte und weiterging.

»War das wirklich nötig?«, fragte Vivana, als das Wesen wieder außer Hörweite war. »Er hat doch gar nichts getan.«

»Er ist ein Dämon. Spar dir dein Mitleid für jemanden auf, der es verdient.« Lucien steckte sein Messer weg. »Jetzt komm weiter. Es ist noch ein langer Weg.«

13

Gefangene Erinnerungen

Vivana vermochte nicht zu sagen, wie lange sie durch die Hügel wanderten. Fünf, sechs Stunden vielleicht, aber es hätten auch zwei Tage sein können. Als sie sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnte, suchte Lucien eine Stelle, wo sie rasten konnten. Unter einem überhängenden Felsen, der sie vor dem Wind und den Blicken geflügelter Wesen schützte, ließen sie sich nieder und ruhten sich aus.

Obwohl Lucien dem Dämon befohlen hatte, stets in ihrer Nähe zu bleiben, fesselte er ihm zur Sicherheit Hände und Füße und band ihn an einem Felsen fest – nah genug bei ihrem Lager, dass sie ihn im Auge behalten konnten, aber weit genug weg, dass das Geschöpf nicht jedes ihrer Gespräche mitbekam. Die Art, wie Lucien mit ihrem Gefangenen umsprang, grenzte an Brutalität, und Vivana beschloss, mit ihm darüber zu reden, wenn sie nicht mehr so müde war. Vielleicht war es dumm, mit einer Ausgeburt des Bösen Mitgefühl zu haben, aber sie konnte nun einmal nicht anders.