Laut Luciens Karte befand sich in der Nähe des Lagerplatzes eine Wasserstelle. Vivana und Lucien machten sich auf die Suche danach, konnten sie jedoch nicht finden – offenbar war die Karte zu ungenau oder die Quelle längst ausgetrocknet. Doch so schnell wollte Lucien nicht aufgeben. Da, wo die Quelle hätte sein müssen, grub er im Boden. In einer Tiefe von zwei Fuß stieß er schließlich auf feuchtes Erdreich.
»Siehst du?«, sagte er triumphierend. »Ich wusste doch, dass ich mich auf meinen Riecher verlassen kann.« Mit bloßen Händen schaufelte er den Schlamm aus dem Loch.
Skeptisch betrachtete Vivana die stinkende Brühe, die sich am Grund des Lochs sammelte. »Und du bist wirklich sicher, dass man das trinken kann?«
»Es ist nicht gerade Tafelwasser, aber wenn wir es gut abkochen, wird es seinen Zweck erfüllen.«
Sie schöpften die Schlammbrühe mit ihrem Topf aus der Grube, filterten sie, so gut es ging, mit einem Tuch und erhitzten sie über dem Gaskocher. Das Wasser, das sie auf diese Weise gewannen, hatte eine ungesunde Farbe und schmeckte scheußlich, und sie bekamen alle drei Bauchschmerzen davon, doch Vivana sagte sich, dass das immer noch besser war, als zu verdursten.
Während sich ihr Vater und sie hinlegten, hielt der Alb Wache. Da er einen Körper aus Fleisch und Blut besaß, hatte er dieselben Bedürfnisse wie ein sterbliches Geschöpf – er musste essen, trinken und schlafen. Allerdings kam er mit weit weniger Schlaf als ein Mensch aus, weswegen er ihnen den Vortritt ließ. Vivana machte es sich so bequem, wie es der felsige Boden erlaubte, und ließ Ruac unter ihre Decke schlüpfen. Der Tatzelwurm schmiegte sich an sie; seine Schuppen verströmten behagliche Wärme. Wenig später fielen ihr die Augen zu.
Der Schlaf war kurz und alles andere als erholsam. Mit schmerzenden Gliedern und pochenden Schläfen setzte sie sich auf und rieb sich das Gesicht. Lucien hatte sie darauf vorbereitet. Wenn ein Mensch schlief, verließ die Seele den Körper und zog sich in ihr Seelenhaus zurück, wo sie träumte und sich ausruhte, hatte er erklärt. Im Pandæmonium jedoch war dieser natürliche Vorgang gestört, denn die Mauern aus Licht verhinderten, dass die Seele ihre schützende Zuflucht aufsuchte. Sie musste im Körper bleiben, konnte nicht träumen und sich folglich auch nicht erholen.
Schattenwesen, die keine menschliche Seele besaßen, waren von alldem natürlich nicht betroffen. Ruac hatte bestens geschlafen; er gähnte und bog den Rücken durch, als er sich genüsslich streckte. Vivana beneidete ihn von Herzen.
Sie streifte die Decke ab und betrachtete den goldenen Dunst in der Ferne und den Himmel, der immerzu aussah, als ginge gerade die Sonne unter. Sie fragte sich, wie viel Zeit während ihrer Wanderung durch die Hügel zuhause vergangen war – weniger oder mehr als hier? – und ob Tante Livia ihren Brief inzwischen bekommen hatte. Vivana wünschte, ihre Tante und die anderen Manusch wären hier. Mit ihrem Mut und ihrer unerschütterlichen Fröhlichkeit hätten sie gewiss dafür gesorgt, dass ihr diese Einöde nicht ganz so trostlos erschienen wäre.
Ihr Vater war ebenfalls wach. Er saß mit dem Rücken an einem Felsen und löffelte Bohnen aus einer Dose. »Ich bin also nicht der Einzige, der nicht schlafen kann«, sagte er, als sie sich zu ihm setzte. Er hielt ihr die Bohnen hin. »Du auch?«
Sie nickte, und er machte ihr eine Dose auf. »Wo ist Lucien?«
»Schläft. Ich habe ihm gesagt, dass ich für ihn übernehme.«
Sie stellte fest, dass sich der Alb in der Nähe des Dämons hingelegt hatte, damit er es sofort mitbekam, wenn dieser etwas Unerwartetes tat. Sein Misstrauen dem Wesen gegenüber kannte keine Grenzen.
Vivana schlang die Bohnen herunter, obwohl sie kalt nicht gerade erstklassig schmeckten. Ihr Vater war noch mürrischer als an einem durchschnittlichen Morgen zuhause, aber davon abgesehen hielt er sich erstaunlich gut. Sie hatte Schlimmeres erwartet, schließlich stellte das Pandæmonium alles infrage, woran er sein ganzes Leben lang geglaubt hatte.
Sie war so hungrig, dass sie noch eine zweite Dose aß. Währenddessen lichtete sich der Dunst, und sie entdeckte an der Hügelflanke, versteckt zwischen den Felsen, eine Ruine. Das Gemäuer war viel kleiner als die Bauwerke, die sie in der Ferne gesehen hatte, bestand aber anscheinend aus dem gleichen Material.
»Ich seh mir das mal an.«
»Nein«, sagte ihr Vater. »Du bleibst bei mir.«
»Was soll schon passieren? Hier ist doch nichts.«
»Das weißt du nicht. Ich komme mit.«
»Irgendwer sollte auf den Dämon aufpassen«, gab Vivana zu bedenken.
Mit gerunzelter Stirn blickte er zu ihrem Gefangenen. »Also gut. Aber geh nicht so weit weg.«
Sie schob sich ein Messer hinter den Gürtel – mehr um ihn zu beruhigen und weniger in dem Glauben, dass sie es brauchen würde – und stieg den Hang hinunter. Ruac wollte mitkommen, also nahm sie den Tatzelwurm auf den Arm.
Die Ruinen waren nicht einmal fünfzig Schritt von ihrem Lager entfernt und befanden sich auf einer natürlichen Stufe im Hang, ungefähr auf halber Höhe zwischen Talsohle und Hügelkuppe. Von Weitem konnte man die Mauern kaum von den Felsen unterscheiden. Erst als sie näher herankam, konnte sie erkennen, dass es sich vermutlich um die Überreste eines Turmes handelte. Die Grundfläche war weder eckig noch rund, sondern irgendetwas dazwischen, ein Vieleck. Das Gebäude musste einst sehr merkwürdig ausgesehen haben.
Vivana wusste selbst nicht, warum diese Ruinen eine solche Faszination auf sie ausübten. Lucien hatte gesagt, sie seien nicht von Dämonen erbaut worden. Wenn das zutraf, mussten im Pandæmonium einst noch andere Wesen gelebt haben. Was war aus ihnen geworden? Hatten die Dämonen sie vernichtet? Das riesige Knochenfeld, das sie gestern gesehen hatten, fiel ihr wieder ein. Allmählich gewann sie den Eindruck, dass sich in dieser Einöde vor Urzeiten eine schreckliche Katastrophe ereignet hatte.
Die Mauern bestanden aus schwarz gemaserten Steinblöcken, die Obsidian ähnelten, und reichten ihr höchstens bis zur Hüfte. Überall lagen Quader und Pfeiler herum, zerbrochen und halb in der Erde versunken. Nur an einer Stelle war die Wand ein klein wenig höher und bildete eine gezackte Spitze.
Sie setzte Ruac ab und betrat vorsichtig die Turmruine. Roter Staub hatte sich in Ecken und Winkeln angesammelt, winzige Dünen, hereingeweht und geformt vom Wind. Sie entdeckte keine Spuren, nichts, das auf Leben hindeutete. Das Gemäuer war schon lange verlassen.
In einer der zahllosen Ecken stand eine Tafel, eine Art Stele, die wie ein schiefer Grabstein aus dem Boden ragte. Ein Netz aus Rissen überzog die Platte, der Zahn der Zeit hatte ihre Ecken und Kanten abgeschliffen.
Schriftzeichen und Symbole waren darauf abgebildet.
Die Hieroglyphen ähnelten jenen auf Luciens Brandeisen. Hatten die Erbauer der Ruinen etwa auch das Eisen geschmiedet?
Vivana ging in die Hocke. Zögernd führte sie ihre Hand zu der Steintafel, obwohl sie ein ungutes Gefühl dabei hatte. Aber da war etwas an der Stele, das sie magisch anzog, das in ihr den Drang weckte, mehr darüber herauszufinden, jeder Gefahr zum Trotz.
Ihre Haut begann zu prickeln, als sie die Platte mit den Fingerkuppen berührte. Der Stein schien warm zu sein, aber möglicherweise bildete sie sich das nur ein, so aufgeregt, wie sie war. Sie legte die Handfläche auf die Schriftzeichen... und plötzlich floss Hitze durch ihren Arm, ein Strom sengender Energie, der ihre Schultern, ihre Brust, ihren ganzen Körper erfüllte. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, doch es gelang ihr nicht, so als wäre die Haut mit dem Stein verwachsen. Bilder blitzten in ihrem Kopf auf, begleitet von tausendfachen Stimmen und Geräuschen, eine Kaskade, eine gewaltige Flut von Eindrücken, die jäh über sie hereinbrach. Sie sah riesige Städte mit himmelhohen Türmen, Menschen in seltsamen Kleidern mit noch seltsameren Waffen und Geräten, Heerscharen von fliegenden Dämonen, die den Himmel verdunkelten, und grausame Schlachten, die grünes und fruchtbares Land in eine Wüste aus Staub, Asche und Schwefel verwandelten. Sturmböen von unfassbar mächtiger Magie walzten über Berge und Ebenen, entflammten das Firmament und brachten Meere zum Kochen.