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All das sah Vivana innerhalb weniger Augenblicke. Sie ächzte vor Entsetzen und Schmerz und verlor das Bewusstsein.

Es war Ruac, der sie weckte. Der Tatzelwurm saß auf ihrem Bauch, die Krallenpfoten auf ihrem Schlüsselbein, und züngelte. Sie blinzelte und stellte fest, dass sie neben der Stele auf dem Rücken lag.

»Was war das?«, fragte sie Ruac mit belegter Stimme.

Sie drückte ihn mit einer Hand an sich, während sie die andere zu Hilfe nahm, um sich aufzusetzen. Ihr war schwindelig, und ihr Kopf tat weh. Wenigstens sah sie keine Bilder mehr.

Benommen betrachtete sie die Stele. Was, bei allen Namen Tessarions, hatte dieses Steinding mit ihr gemacht?

Sie drehte den Kopf, als sie ihren Namen hörte. Ihr Vater hatte offenbar gesehen, was passiert war, und rannte den Hang hinunter, gefolgt von Lucien.

Mühsam stand sie auf. Ihr Vater sollte nicht denken, dass es ihr schlecht ging. Er würde ihr nur wieder Vorhaltungen machen, dass sie besser auf ihn gehört hätte und im Lager geblieben wäre.

»Was ist los?«, fragte er, als die beiden Männer die Ruine erreichten. »Du bist plötzlich umgekippt. Geht es dir gut?«

»Alles in Ordnung, Paps. Mach dir nicht schon wieder Sorgen.«

»Was ist denn passiert?«

»Ich habe diese Platte da angefasst und bin ohnmächtig geworden.«

»Einfach so?«

»Ich habe Sachen gesehen. Bilder. Von einem Krieg, glaube ich.«

»Nachdem du die Tafel berührt hast?«, fragte Lucien argwöhnisch.

Sie nickte.

Der Alb ging zur Stele und untersuchte sie, ohne sie anzufassen. Schließlich zückte er sein Messer und kratzte damit über den Stein, zog die Klinge jedoch sofort wieder zurück. »Du hattest verteufeltes Glück. Du hättest den Verstand verlieren können. Mach so etwas nie wieder, hörst du?«

Vivana zog die Nase kraus. »Was ist das überhaupt für ein Ding?«

»Der Stein enthält gespeicherte Erinnerungen. Sehr alt. Und ziemlich gefährlich.«

»Gespeicherte Erinnerungen?«, fragte ihr Vater. »Von wem?«

»Den Leuten, die diesen Turm gebaut haben«, antwortete Vivana. »Und die anderen Ruinen.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich es gesehen habe.«

»Was genau hast du gesehen?«, wollte Lucien wissen.

Es fiel ihr schwer, sich an Einzelheiten zu erinnern. Außerdem war die Abfolge der Bilder – der Erinnerungen – willkürlich und chaotisch gewesen, sodass sie bestenfalls vermuten konnte, was damals, vor unbegreiflich langer Zeit, geschehen war. »Früher haben hier Menschen gelebt. Aber keine wie wir, sondern... höher entwickelte.« Eine bessere Beschreibung für die magische Zivilisation, die sie gesehen hatte, fiel ihr nicht ein.

»Was meinst du mit ›hier‹?«, fragte ihr Vater. »Im Pandæmonium?«

»Dieses Land war nicht immer das Pandæmonium. Früher war es ein ganz normales Land. Die Heimat dieser Menschen.«

»Du hast von einem Krieg gesprochen«, sagte Lucien.

»Ja. Ein Krieg gegen die Dämonen. Die Menschen haben ihn beinahe verloren, also überließen sie den Dämonen ihr Land und... trennten es ab.«

»Trennten es ab?«, wiederholte ihr Vater.

»Sie nutzten ihre Magie und schleuderten es ins Nichts, wo es zum Pandæmonium wurde«, sagte Lucien. »Das meinst du doch, oder?«

»Ich denke schon«, erwiderte Vivana ein wenig ratlos. Es war schwierig, diese Dinge zu beschreiben – für vieles, was sie gesehen hatte, gab es in ihrer Sprache keine passenden Wörter. Sie bemerkte den Gesichtsausdruck ihres Vaters. »Du glaubst mir nicht, richtig?«

»Ein ganzes Land, das einfach verschwindet«, sagte er. »Du musst zugeben, dass das nicht gerade plausibel klingt. Und wieso steht davon nichts in den Geschichtsbüchern?«

»Weil es lange her ist. Länger als du dir vorstellen kannst.«

Er war nicht überzeugt. »Was wurde aus diesem mysteriösen Volk?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.

»Völker verschwinden eben mit der Zeit«, sagte Lucien. »Oder der Zauber, mit dem sie die Dämonen aus der Welt geschafft haben, hat sie so viel Kraft gekostet, dass sie ausgestorben sind.«

»Ja«, meinte Vivana. »Ja, ich glaube, so ist es gewesen.«

Ihr Vater hatte sein Büchlein gezückt, um sich Notizen zu machen. Er steckte es zurück in seine Brusttasche und stapfte durch die Ruine.

»Was hast du vor?«

»Ich will sehen, was du gesehen hast.«

Lucien hielt ihn fest. »Habe ich nicht gerade gesagt, dass es gefährlich ist?«

»Vivana ist auch nichts passiert«, erwiderte der Erfinder unwirsch.

»Sie war ohnmächtig, schon vergessen? Außerdem ist nicht gesagt, dass mit dir dasselbe geschieht. Magische Gerätschaften sind unberechenbar, besonders wenn sie so alt sind.«

»Die Tafel ist hier, damit man sie anfasst. Dieses Volk wollte, dass jemand seine Geschichte erfährt.«

»Mag sein«, sagte Lucien. »Aber das nützt dir wenig, wenn dir das Hirn aus den Ohren quillt.«

Unsanft schüttelte Vivanas Vater seine Hand ab und stapfte mit finsterer Miene zum Lager zurück.

Vivana blickte sich noch einmal nach der Stele um, bevor sie dem Erfinder folgte. Es war ein seltsames Gefühl, ihr den Rücken zuzudrehen. Beinahe so, als würde sie beobachtet.

14

Die Horde

Ein paar Stunden später, als sie einigermaßen ausgeruht waren, brachen sie auf. Nach einem anstrengenden Marsch durch die Hügel, die immer höher und zerklüfteter wurden, gelangten sie irgendwann in eine Ebene. Schwefliger Rauch stieg aus zahlreichen Spalten und Rissen in der ausgetrockneten Erde auf, sodass man selten weiter als hundert Schritt blicken konnte. Während der Dämon sie in Richtung der Berge führte, musste Vivana an die magischen Feuerstürme aus ihrer Vision denken. Vielleicht war diese Ebene einst fruchtbares Weideland gewesen, mit Äckern, Obstgärten und Plantagen. Unvorstellbar, dass hier vor Äonen Menschen gelebt hatten.

Der Rauch war beißend und giftig und machte jeden Atemzug zur Qual. Vivana spürte, wie ihr Rachen wund wurde, und sie musste so heftig husten, dass stechende Schmerzen ihre Brust durchzuckten. Lucien und ihrem Vater erging es nicht besser. Nur dem Dämon machte der Rauch nichts aus. Vivana fragte sich, ob er sie hergeführt hatte, um sie umzubringen.

Ein Gutes allerdings hatte der Qualm: Er verbarg sie vor den Dämonenvögeln, die gelegentlich am Himmel kreisten. Manchmal stieß eine der geflügelten Kreaturen herab und kam ihnen gefährlich nahe. Einmal mussten sie sich deswegen in einer Felsspalte verstecken. Es dauerte nicht lange, bis der Riesenvogel wieder verschwand, trotzdem erstickten sie beinahe an den Dämpfen, die aus der Erde quollen.

Schließlich wich die Ebene karstigen Hügeln, ähnlich jenen, die sie vor einem halben Tag durchquert hatten. Felsen bildeten haushohe Haufen, manche in großer Hitze zu glasigen Klumpen und wilden Formen zerschmolzen. Tümpel und Pfuhle aus blubberndem Schwefel befanden sich in Mulden und Talsenken, teilweise so groß wie Vulkankrater. Sie erfüllten die Luft mit gelben Schwaden und ätzendem Gestank. Schon in der Ebene hatten sich die Gefährten wassergetränkte Tücher vor Mund und Nase gebunden, was das Atmen ein wenig erleichterte.