Lucien studierte seine Karte, während er mit dem Dämon vorausging. Vivana stapfte neben ihrem Vater her, der sich darüber beklagte, dass er keines seiner Messgeräte dabeihatte und sich somit bei der Erforschung des Pandæmoniums allein auf seine Beobachtungsgabe verlassen musste. Ruac folgte ihnen watschelnd und fiel gelegentlich ein paar Schritte zurück, weil er an einem Schwefelpfuhl schnupperte.
Nach einer Weile hörte der Erfinder auf, vor sich hin zu schimpfen. »Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte er unvermittelt.
»Wofür?«
»Was ich zu dir gesagt habe, bevor wir zur Namenlosen Herberge gegangen sind. Dass du unser Leben zerstört hättest und so weiter. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich war wütend auf dich und habe mich im Ton vergriffen.«
Vivana war sprachlos. Sie hatte die Hoffnung schon aufgegeben.
»Du hast nur versucht, das Richtige zu tun«, fuhr er fort. »Dass wir deswegen in Schwierigkeiten geraten sind, ist nicht deine Schuld. Schließlich war es meine Entscheidung, Liam zu helfen. Ich wusste, worauf ich mich einließ.«
»Danke, Paps«, sagte Vivana verdattert. »Ich weiß das zu schätzen.«
»Na ja«, murmelte er. »Das wollte ich dir nur sagen.«
Vivana spürte, dass das längst nicht alles war, worüber er mit ihr sprechen wollte. Aber er hatte den ersten Schritt gemacht. Mehr konnte sie nicht von ihm verlangen. Nun war sie am Zug.
Sie holte innerlich tief Luft. Vielleicht war dies das Gespräch, das sie sich schon so lange erhoffte. »Du hast mich nie gefragt, wieso Liam und ich... wie es dazu gekommen ist, dass wir Freunde geworden sind.«
Er blickte stur gerade aus. »Das ist deine Sache und geht mich nichts an.«
»Natürlich tut es das. Du bist mein Vater.«
»Du weißt doch, ich bin nur ein alter Tüftler. Ich verstehe nichts von solchen...«
»Von solchen Mädchendingen, meinst du? Du musst auch nichts davon verstehen. Es reicht, wenn du mir zuhörst. Also, das war so: Liam und ich haben uns angefreundet, nachdem er dich zuhause besucht hat. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und, na ja, irgendwie ging dann alles ziemlich schnell. Wir waren zusammen beim Phönixtag, und abends hat er mir verraten, wer er wirklich ist und was er im Palast von Lady Sarka tut. Da ist mir klar geworden, dass ich mehr für ihn empfinde.«
Der Erfinder schwieg. Dieses Vater-Tochter-Gespräch fiel ihm offensichtlich nicht leicht. »Und Liam... empfindet er auch etwas für dich?«
»Ja.«
»Obwohl ihr euch erst seit zwei Wochen kennt?« »Was spielt das für eine Rolle?«, erwiderte Vivana mit einem Anflug von Ärger. Tante Livia hatte dasselbe gefragt. Als ob das etwas zur Sache tat.
»Du hast Recht. Tut es nicht. Bei deiner Mutter und mir war es damals so ähnlich.«
Diese Antwort überraschte sie. Sie hätte nicht gedacht, dass er ihre Gefühle ernst nehmen würde. »Heißt das, du bist nicht sauer deswegen?«
»Warum sollte ich?«
»Ich weiß nicht – keine Ahnung. Ich dachte einfach, du wärst es.«
»Eigentlich gibt es nur eins, das ich dir übel nehme«, sagte er.
»Das wäre?«
»Dass du mich nicht eingeweiht hast. Du hättest mir sagen müssen, was los ist und dass du vorhast, Liam zu helfen.«
»Und was wäre dann passiert? Du hättest getobt, oder?«
»Hätte ich nicht.«
»Oh doch. Hättest du.«
»Na schön. Hätte ich«, murmelte er missmutig hinter seinem Mundschutz.
»Wir haben uns in den letzten Jahren so oft gestritten. Ich bin es einfach leid.«
»Nicht nur du.«
»Warum tun wir es dann?«
»Ich schätze, wir haben verlernt, vernünftig miteinander zu reden.«
»Dabei ist es doch gar nicht so schwer.«
»Stimmt. Ist es wirklich nicht.«
Schweigend und ein bisschen verlegen folgten sie dem Pfad. Vivana war plötzlich seltsam zu Mute. Sie brauchte eine Weile, bis es ihr gelang, dieses ungewohnte Gefühl zu identifizieren: Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie nicht wütend auf ihren Vater. Sie hatte sich schon so an ihren latenten Zorn gewöhnt, dass sie gar nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte, sich nicht über ihn zu ärgern.
Das hätten wir schon viel früher tun sollen, dachte sie.
»In Zukunft wird sich jedenfalls einiges ändern«, murmelte ihr Vater.
Kurz darauf wanderten sie auf einem Grat entlang, der aus der Bergflanke wuchs wie eine natürlich gewachsene Wehrmauer. Zu ihrer Rechten fiel der Hang fast senkrecht hundert Schritt ab. Knochen bedeckten den Boden der Schlucht, die Gebeine und Schädel unzähliger Kreaturen. Allgemeine Erschöpfung machte sich breit, und Vivanas Vater schlug Lucien vor, einen Platz zum Rasten zu suchen. Der Alb achtete jedoch nicht auf ihn. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er den Eingang der Schlucht und sagte unvermittelt: »Versteckt euch!«
Sie gingen hinter dem Felsenkamm in Deckung. Lucien befahl dem Dämon, den Kopf einzuziehen, damit er von der Schlucht aus nicht gesehen werden konnte. »Was ist denn los?«, fragte Vivana den Alb, woraufhin er wortlos nach unten deutete.
Dämonen erschienen in dem Abgrund, einer nach dem anderen kam um eine Biegung, und sie marschierten in einer Schlange aus Zweier- und Dreierreihen die Schlucht entlang. Es mussten Dutzende sein, vielleicht sogar Hunderte, die in der Tiefe vorbeizogen, eine Horde aus aufgeblähten und deformierten Leibern mit Flügeln, Hörnern, Rückenstacheln, Klauen und Fangzähnen. Es waren Geschöpfe darunter, wie Vivana sie an dem schwarzen Tümpel gesehen hatte, Krieger mit vier dünnen Beinen und knochigen Schädeln, und mehrere Lügner, die ihrem Führer ähnelten. Aber bei den meisten handelte es sich um Dämonen, die sie noch nicht kannte. Klobige Monstren so groß wie ein Baum, deren Körper von chitinartigen Panzerplatten bedeckt waren. Schwarze Käfer, auf denen Wichte mit schräg stehenden Augen ritten. Geschöpfe mit Schlangenköpfen, die Hornschilde und Dornenkeulen trugen. Abstoßende Mischwesen, teils Mensch, teils Insekt. Und manche so fremdartig, dass Vivana sie unmöglich hätte beschreiben können.
Ihr stockte der Atem. Schon ein einzelner Dämon bot einen beängstigenden Anblick. Doch das war nichts verglichen mit diesem Heerzug der Hölle.
»Nachachs Blutsklaven«, flüsterte Lucien.
»Wie scharfsinnig du doch bist, Meister«, säuselte der Dämon. Seine beiden Mäuler öffneten sich zu einem Grinsen, und zwei Zungen leckten sich über die Lippen, wie in Erwartung eines köstlichen Mahls. Vivana bemerkte, dass Lucien dem Dämon seinen Dolch in die Seite presste. Offenbar wollte er sicherstellen, dass das Geschöpf sie nicht verriet. Vertraute er etwa der Macht des Brandeisens nicht mehr?
Schrilles Geschrei lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Schlucht. Einer der koboldartigen Wichte war von seinem Käfer abgeworfen worden und hatte sich verletzt. Augenblicklich sprangen fünf oder sechs seiner Artgenossen von ihren Reittieren und fielen kreischend über ihn her, zerhackten ihn mit Messern und Knochenäxten und stopften sich sein Fleisch in die Mäuler. Die anderen Dämonen in der Nähe schauten zu und kicherten und zirpten vergnügt.
Angewidert wandte sich Vivana ab... und stellte fest, dass Ruac verschwunden war.
Eben noch hatte der Tatzelwurm neben ihr gelegen. Sie blickte sich um und spähte den Grat entlang, den sie heraufgekommen waren.
»Was ist?«, fragte ihr Vater leise.
»Ruac – er ist weg!«
Sie richtete sich geduckt auf und begann, die Felsen abzusuchen.
»Was machst du da?«, fuhr Lucien sie an. »Bleib unten!«
Auch ihr Vater sah sich um. »Gerade war er doch noch da. Weit kann er nicht gekommen sein.«