Da entdeckte sie ihr Messer und zog es aus einer Ritze im Boden. Im gleichen Moment stürzte Lucien, als er einem Hieb auswich, und verlor seinen Gürtel. Der Dämon versuchte, ihn mit einem kraftvollen Tritt zu zerstampfen, er rollte sich geschickt zur Seite und griff nach seinen Waffen. Diesmal war er zu langsam. Sein Gegner bekam ihn zu fassen, zog ihn weg und drückte ihm den Hals zu.
Vivana schluckte hart. Der Gedanke, den Dämon anzugreifen, erfüllte sie mit Entsetzen. Aber sie konnte nicht untätig zusehen. Wenn sie nichts unternahm, erwürgte er Lucien.
Mit dem Messer in der Hand hastete sie über die Böschung.
Lucien wehrte sich gegen die Umklammerung, doch er war den Kräften seines Gegners nicht gewachsen. Vivana stach zu. Eine Krallenhand des Dämons schnellte vor und erwischte sie am Arm, wodurch sie ihn verfehlte. Der Hieb war so heftig, dass sie zurücktaumelte und fürchtete, ihre Hand sei gebrochen. Lucien machte es sich zu Nutze, dass der Dämon ihn für eine Sekunde losließ, trat der Kreatur mit aller Kraft gegen den Torso und befreite sich so aus dem Würgegriff. Hustend kroch er zu seinem Gürtel.
Der Dämon richtete sich auf; seine beiden Münder glichen zahnbewehrten Halbmonden. »Pass auf!«, rief Vivana Lucien zu, als sich die Kreatur abermals dem Alb näherte.
In diesem Moment trat ihr Vater hinter dem Felsen hervor. In den Händen hielt er einen Steinbrocken, der so groß war wie ihr Tragekorb und den er nur dank seiner mechanischen Hand heben konnte. Der Dämon bemerkte ihn und wirbelte herum, doch es gelang ihm nicht rechtzeitig, auszuweichen oder ihren Vater niederzuschlagen. Der Stein krachte gegen seinen Kopf und schleuderte ihn zu Boden, wo er benommen liegen blieb. Vivana wandte sich ab, als ihr Vater den Felsbrocken aufhob und ihn auf die Kreatur herabsausen ließ.
Im nächsten Augenblick war alles vorbei. Vivana war mit einem Schlag so erschöpft, dass sie sich setzen musste. Ruac kam zu ihr gewatschelt, und sie streichelte ihm über den Kopf.
Ihr Vater ballte seine normale Hand zur Faust. Vermutlich tat sie weh, weil das Gewicht des Steins das Gelenk belastet hatte. »Bist du in Ordnung?«
»Ja. Nichts passiert.« Ihr Arm schmerzte immer noch, aber sie konnte ihn bewegen, also war wahrscheinlich nichts gebrochen.
Auch Lucien war wohlauf, obwohl er schrecklich aussah. Sein Wams war zerrissen und voller Blut; er rieb sich den Hals und verzog das Gesicht. »Ich bin ein Dummkopf«, knurrte er. »Ich hätte daran denken müssen.«
»Es war nicht deine Schuld. Das ist doch Wahnsinn. Ich meine, dass er sich selbst die Haut zerfetzt...« Vivana schauderte, wenn sie nur daran dachte.
»Bei Lügnern muss man mit allem rechnen.« Mit gerunzelter Stirn schnallte sich Lucien den Waffengürtel um.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Vivanas Vater. »Wie wollen wir Liam ohne den Dämon finden?«
»Das ist unser geringstes Problem. Ich habe den Dämon gezwungen, die Stelle, wo Liam angekommen ist, auf der Karte einzuzeichnen. Schwierig wird es nur, wenn Liam nicht mehr dort ist. Aber in dem Fall hätte uns auch der Dämon nicht weiterhelfen können.«
»Wenn du die Stelle kennst, wieso sind wir nicht allein weitergegangen?«
»Ich wollte sichergehen, dass er uns nicht betrügt. Außerdem wäre es zu gefährlich gewesen, ihn fortzuschicken. Wir hätten ihn töten müssen. Und ihr habt ja jetzt gesehen, dass das nicht so einfach ist.«
»Was meinst du damit, unser geringstes Problem?«, fragte Vivana. »Gibt es noch ein anderes?«
»Es kann sein, dass uns der Dämon an Nachach verraten hat«, antwortete Lucien.
Beunruhigt stand sie auf. »Wie denn? Du hast es ihm doch verboten. Außerdem konnte er gar nicht mit anderen Dämonen reden.«
»Ich weiß nicht genau, welche Kräfte er hatte. Möglicherweise stand er irgendwie mit anderen Lügnern in Verbindung – telepathisch. Meine Befehle haben verhindert, dass er um Hilfe rief, das ist richtig. Aber wer weiß, was er getan hat, als das Brandzeichen nicht mehr wirkte.«
Vivana fröstelte. Ihr Blick glitt zu dem Dämon, allerdings bot die Leiche keinen schönen Anblick, weswegen sie sofort wieder wegsah.
»Hilf mir, ihn zu begraben«, sagte Lucien zu ihrem Vater. »Wenn wir fertig sind, brechen wir auf.«
16
Der Schreiende Fluss
Müde stieg Vivana zu Ruac auf das kleine Felsplateau und betrachtete das Meer aus goldenem Dunst. Sie vermochte nicht zu sagen, wie weit die Schlucht war, die sich vor ihr erstreckte – weit genug, dass man die gegenüberliegende Seite nicht sehen konnte. Das Gebirge brach auf einer Breite von mehreren Meilen senkrecht ab, als wäre es von einer titanischen Axt durchschlagen worden. Auch die Tiefe der Kluft ließ sich nicht abschätzen, denn nach fünfzig oder hundert Schritt wurde der Dunst so dicht, dass sich die Felswand und die Klippen, die hier und da wie Reißzähne aufragten, darin verloren.
So ähnlich hatte sie sich immer das Ende der Welt vorgestellt.
Der Wind bauschte ihr Haar auf, und sie schlang die Arme um den Oberkörper. Der Anblick der gewaltigen Schlucht erfüllte sie mit Ehrfurcht, mit einem Gefühl von Verlorenheit. Welche Mächte auch immer all das geschaffen hatten – dagegen war sie nur ein Staubkorn, unbedeutend und klein.
Irgendwo dort unten floss der Schreiende Fluss. Die Hoffnung, Liam bald wiederzusehen, wurde so stark, dass es schmerzte. Gleichzeitig wuchs ihre Angst um ihn, denn seit seiner Ankunft im Pandæmonium konnte alles Mögliche geschehen sein. Dass sie ihn auf Anhieb fanden, war unwahrscheinlich.
Sie kletterte vom Felsen und forderte Ruac auf, mitzukommen. Tragen konnte sie ihn nicht mehr, denn dafür war er inzwischen zu schwer. Glücklicherweise tat er meistens, was sie sagte. Mit dem Tatzelwurm im Schlepptau ging sie zu ihrem Vater und Lucien, die bei ihrem Gepäck warteten. Die beiden Männer hatten kaum gesprochen, seit sie von der alten Bergfestung aufgebrochen waren. Auch jetzt schwiegen sie. Niemand, der diese Schlucht und das Dunstmeer unter dem glühenden Himmel erblickte, blieb davon unberührt, nicht einmal Lucien, der in seinem langen Leben gewiss schon vieles gesehen hatte.
»Gibt es einen Weg nach unten?«, erkundigte sich der Alb.
»Schwer zu sagen«, antwortete Vivana. »Bei all dem Dunst kann man kaum etwas erkennen.«
»Auf der Karte ist ein Abstieg verzeichnet, der zu einer Brücke führt. Eine Treppe, falls die Kritzelei nicht symbolisch gemeint ist. Sie muss hier irgendwo sein. Haltet nach Ruinen Ausschau.« Lucien schulterte seinen Rucksack und ging los, gefolgt von Vivana, ihrem Vater und Ruac. Da sie dem Verlauf der Schlucht folgen mussten, konnten sie nur nach links oder rechts gehen. Lucien hatte sich für rechts entschieden, was genauso gut wie die andere Richtung war, denn seine Karte war viel zu ungenau, um den Abstieg zum Fluss exakt zu lokalisieren.
Es dauerte nicht lange, bis sie auf Ruinen stießen, allerdings nicht am Rand der Schlucht, sondern darin. Wie Klippen und Riffe wuchsen sie aus dem Dunst, scharfkantige Turmspitzen, Mauern, Überreste von steinernen Bögen und Pfeilern. Auf den ersten Blick erschien es Vivana, als handele es sich um viele verschiedene Gebäude, doch als sie genauer hinschaute, wurde ihr klar, dass sie sich irrte. In der Schlucht stand ein einziges Bauwerk, viel gewaltiger als alles, was sie je gesehen hatte. Allein in den Teil, den sie erkennen konnte, hätte die Kathedrale von Bradost mehrmals hineingepasst.
Kein Bauwerk – eine Stadt, dachte Vivana. Eine Stadt des Verlorenen Volkes. Sie glaubte sich zu erinnern, ähnliche Gebilde in ihrer Vision gesehen zu haben.