Выбрать главу

Kurz darauf entdeckten sie die Treppe.

Sie war in die Wand der Schlucht geschlagen worden und so breit wie eine der Hauptstraßen Bradosts. Nach drei- oder vierhundert Schritt knickte sie rechtwinklig ab und führte von der Felswand weg, auf die Ruinen zu, getragen von künstlich geschaffenen Pfeilern und natürlichen Steinsäulen. Obwohl die Stufen im Dunst verschwanden, war Vivana sicher, dass man viele Stunden hinabsteigen musste, um den Grund der Schlucht zu erreichen.

Sie unterdrückte ein Schaudern.

Wenigstens waren weit und breit weder Dämonen noch verdammte Seelen zu sehen.

Sie begannen mit dem Abstieg. Die Treppe bestand aus demselben schwarz schimmernden Material wie die anderen Ruinen, die sie gesehen hatten, und war trotz ihres unvorstellbaren Alters in erstaunlich gutem Zustand. Manche Stufen waren gesprungen oder abgesplittert und aus der Brüstung hier und da Steine gebrochen, doch davon abgesehen wies sie keine nennenswerten Schäden auf.

Sie schwiegen, denn der Weg in den Abgrund war eine beklemmende Erfahrung. Mit jeder Stufe wurde der Dunst dichter, bis man das obere Ende der Felswand nicht mehr ausmachen konnte. Da der Boden der Schlucht noch lange nicht in Sicht war, hatte Vivana zeitweise das Gefühl, mitten im Nichts zu schweben – ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als sie die Stelle passierten, wo die gigantische Stiege von der Felswand wegführte. Wenig später war die Schluchtwand verschwunden, und Vivana sah nichts außer einem etwa hundert Schritt langen Ausschnitt der Treppe und einigen natürlichen Klippen links und rechts, umgeben von blassgoldenen Schlieren. Manchmal erahnte sie riesenhafte Schemen im Dunst, vermutlich Teile der Ruine, doch sie befanden sich zu weit weg, als dass sie Einzelheiten hätte erkennen können.

Irgendwann lichtete sich für einen Moment der allgegenwärtige Dunst, und sie erhaschten einen Blick auf eine kathedralenartige Decke mit steinernen Streben und Rippenbögen viele hundert oder gar tausend Schritt über ihren Köpfen. Lucien brach daraufhin das Schweigen und sprach aus, was sie alle dachten: »Ich glaube, wir sind schon längst im Innern dieses Bauwerks.«

Vivana wusste, dass er Recht hatte, und doch gelang es ihr einfach nicht, sich diese Tatsache vorzustellen. Ein Gebäude, das so groß war, dass man gar nicht mitbekam, wenn man es betrat – unfassbar.

Plötzlich hörten sie Schreie.

Sie kamen von weit unten, aus den Tiefen der Schlucht. Klagelaute voller Qual, die meistens menschlich klangen, manchmal aber auch durch und durch fremdartig. Vivana beugte sich über die Brüstung, um herauszufinden, wer oder was sie ausstieß, aber da war nichts außer Dunst.

»Wenigstens wissen wir jetzt, woher der Schreiende Fluss seinen Namen hat«, bemerkte ihr Vater.

»Was ist da unten los?«, fragte Vivana. »Wer schreit dort?«

»Ich schätze, das finden wir bald heraus«, erwiderte Lucien düster.

Es zerrte an den Nerven, tiefer in den Dunst hinabzusteigen, während ununterbrochen Schreie aus der Tiefe heraufhallten, die mit der Zeit immer lauter wurden. Offenbar näherten sie sich dem Fluss, dem Quell der unheimlichen Laute. Wenn Vivana sich anstrengte, glaubte sie in der Ferne Wasserrauschen zu hören.

»Halt«, sagte ihr Vater nach einer Weile. »Seht mal da.«

Er deutete auf eine schattenhafte Gestalt, die sich vor ihnen aus dem Dunst schälte. Eine Frau, eine verdammte Seele. Und sie war nicht allein: Nach und nach kamen weitere Geistwesen zum Vorschein, eine ganze Schar, die die Brücke blockierte, versunken in Trance und Teilnahmslosigkeit.

»An denen kommen wir nicht vorbei«, sagte Lucien. »Wir brauchen die Kerze.« Er öffnete seinen Rucksack, und kurz darauf verströmte die Zauberkerze ihr Licht.

Die verdammten Seelen wichen zu den Rändern der Brücke zurück, als die Gefährten weitergingen, die durchscheinenden Gesichter von Furcht und Hass verzerrt. Von ihnen kamen die Schreie nicht – sie waren genauso stumm wie die Geistwesen, die sie am Tor getroffen hatten. Vivana und ihre Begleiter blieben dicht beisammen, denn die Seelen folgten ihnen und umringten sie außerhalb des Lichtscheins – ein Wall aus bleichen Leibern, aus dem gelegentlich ein tastender Arm wuchs, der rasch wieder zurückgezogen wurde, wenn er mit dem Kerzenlicht in Berührung kam.

Lähmende Kälte ging von den untoten Geschöpfen aus. Vivanas Vater verteilte Decken, die sie sich über die Schultern warfen, was jedoch kaum etwas half.

Als das Rauschen immer lauter wurde, trieb Lucien die verdammten Seelen mit der Kerze auseinander und trat an die Brüstung. Etwa fünfzig Schritt unter ihnen strömte der Fluss dahin und umspülte die Treppenpfeiler. Er bestand nicht aus Wasser, sondern aus einer aschefarbenen Flüssigkeit, die leicht nach Verwesung stank. Gesichter bildeten sich an der Oberfläche, Masken des Schmerzes und der Furcht, die die Münder aufrissen und Klagerufe ausstießen, bevor sie sich wieder auflösten und mit dem Fluss verschmolzen.

»Was ist das?«, hauchte Vivana voller Entsetzen.

»Verdammte Seelen«, antwortete Lucien, »gefangen im Fluss. Lass uns weitergehen.«

Obwohl sie der Anblick der geisterhaften Gesichter zutiefst verstörte, musste sie sich zwingen, sich von dem Fluss loszureißen. Sie wusste nicht, was schlimmer war: als untoter Schatten durch das Pandæmonium zu irren oder für immer Teil dieses Flusses zu sein, allein mit seiner Qual und ohne Aussicht auf Erlösung.

Hör auf damit, sagte sie sich. Denk an Liam.

Doch kaum stellte sie sich sein Gesicht vor, kamen ihr wieder Luciens Worte in den Sinn. Wenn Liam im Pandæmonium starb, hatte der Alb gesagt, wurde er zu einer verdammten Seele, und dann gab es keine Hoffnung mehr für ihn.

Vivana schob diesen Gedanken weg, kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Sie biss sich auf die Lippe, folgte Lucien und ihrem Vater und senkte den Blick, damit sie die bleichen Gesichter, die sie umringten, nicht sehen musste.

Kurz darauf erreichten die Gefährten das andere Ufer, wo sich eine breite Mole befand. Das graue Wasser umspülte mehrere Steinquader, die Überreste alter Anlegestege. Das Geschrei war unerträglich.

Auch auf der Mole ließen die Geistwesen nicht von ihnen ab – sie schienen nur darauf zu warten, dass die Kerze erlosch.

»Wir müssen sie irgendwie abschütteln«, raunte Vivana Lucien und ihrem Vater zu.

»Seht ihr die Mauern da vorne?«, erwiderte der Alb ebenso leise. »Dort versuchen wir, uns zu verstecken. Auf mein Zeichen laufen wir los.«

Jenseits der Mole erstreckte sich ein gepflasterter Platz, übersät mit Schutt. Inmitten der Trümmer stand ein Pfeiler, eine Säule mit asymmetrischer Grundform, dick wie ein Turm und so hoch, dass sie im Dunst über ihren Köpfen verschwand.

Sie hatten schon vor Tagen beobachtet, dass verdammte Seelen weder fliegen noch feste Materie durchqueren konnten, obwohl ihre Körper weniger Substanz als Rauch aufwiesen. Wie Lebende waren sie der Schwerkraft unterworfen und mussten Hindernisse, die ihnen den Weg versperrten, umgehen. Diese Tatsache machten sich Vivana und ihre Gefährten zu Nutze, indem sie sich durch eine enge Lücke zwischen zwei Trümmerhaufen zwängten, sodass die Geistwesen sie nicht mehr umzingeln konnten, sondern ihnen einzeln folgen mussten.

»Jetzt!«, rief Lucien, als sie die Schutthaufen hinter sich ließen. Er schirmte die Kerzenflamme mit der Hand ab und lief los. Vivana und ihr Vater setzen ihm nach. Ihre plötzliche Flucht überrumpelte die Geisterschar. Die Totenseelen sammelten sich vor den Trümmerhaufen und standen einen Moment ratlos herum, ehe sie begriffen, dass ihre Opfer im Begriff waren, zu entkommen. Als sie die Verfolgung aufnahmen, hatten Vivana und ihre Gefährten bereits einen beträchtlichen Vorsprung.

Allerdings drohte Ruac zurückzufallen. Obwohl der Tatzelwurm flink über das Pflaster watschelte, war er nicht schnell genug, um mit ihnen Schritt zu halten. Vivana und ihr Vater mussten ihn mit vereinten Kräften tragen, wodurch sie langsamer wurden und die Geisterschar aufholen konnte. Lucien schimpfte lautstark auf Ruac, blieb jedoch bei ihnen, um die verdammten Seelen notfalls mit der Kerze zurückzutreiben.