Schließlich kamen sie zu den Mauern, die Lucien gemeint hatte, die Überbleibsel einiger Gebäude. Nur noch wenige Schritte trennten sie von den Totenseelen, und Vivana spürte in ihrem Nacken die Eiseskälte, die von ihnen ausging. Lucien hatte eine Spalte im Mauerwerk entdeckt. Er ließ Vivana und ihren Vater mit Ruac hindurchschlüpfen, bevor er ihnen folgte. Die Kerze stellte er in die Öffnung, damit ihr Licht die Geistwesen aussperrte. Vor der Spalte sammelten sie sich, ein Halbkreis aus hasserfüllten Gesichtern.
Schwer atmend blickte Vivana sich um. Die Ruine, in der sie Zuflucht gesucht hatten, maß ungefähr zehn mal zehn Schritt. Ein lausiges Versteck, denn die Wände waren gerade einmal mannshoch, und überall klafften Spalten und Breschen darin. Es war höchstens eine Frage von Minuten, bis die verdammten Seelen sie abermals ganz umzingelten. Sie wollte tiefer in das Labyrinth aus Mauerresten und Schutthaufen fliehen, doch Lucien hielt sie zurück.
»Warte«, sagte er. »Mit etwas Glück verlieren sie bald das Interesse an uns.«
»Aber hier sind wir nicht sicher. Sieh doch, wie viele Löcher die Wände haben.«
»Ich glaube nicht, dass ihnen das auffällt. Sie sind nicht besonders klug.«
Lucien behielt Recht: In ihrem Zorn waren die Geistwesen so sehr auf die Öffnung mit der Kerze fixiert, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, anderswo in die Ruine einzudringen. Da sie nichts gegen das Licht ausrichten konnte, zerstreute sich die Schar nach einigen Minuten. Nach und nach verschwanden die Totenseelen im Dunst.
Der lange Marsch die Treppe hinunter, die Kälte, die von den verdammten Seelen ausging, und die Flucht hatten Vivana und ihre Gefährten erschöpft, sodass sie sich eine Weile ausruhen mussten. Vivana nutzte die Gelegenheit, um Ruac zu füttern. Dabei stellte sie fest, dass sein Trockenfleisch allmählich zur Neige ging. Ruac fraß inzwischen das Doppelte der üblichen Menge. Wenn er weiter wuchs und es ihr nicht gelang, neues Futter aufzutreiben, hielt der Rest noch höchstens drei Tage. Ihr blieb nichts anderes übrig, als seine Portionen zu halbieren. Der Tatzelwurm war davon nicht gerade begeistert – er verschlang das kümmerliche Fleischstück mit einem Bissen und bettelte um mehr. »Tut mir leid«, sagte sie bedauernd, »ab heute musst du Diät halten.« Doch Ruac ließ nicht locker. Er kroch um den Tragekorb herum und versuchte, an sein Futter heranzukommen. Schließlich hatte sie Mitleid mit ihm und gab ihm einen Keks, den sie eigentlich selbst hatte essen wollen.
Die Schreie, die unaufhörlich vom Fluss heraufhallten, waren wegen des Dunstes nur gedämpft zu hören, aber das machte sie nicht weniger beklemmend. Vivanas innere Unruhe wurde immer größer, und sie ging zu ihrem Vater und Lucien, die bei der Öffnung saßen und den Platz beobachteten.
»Wo wollen wir mit der Suche nach Liam anfangen?«, fragte sie den Alb.
»Am besten hier.«
»Aber wir wissen doch nur, dass er in der Nähe des Schreiendes Flusses angekommen ist. Er könnte auch ganz woanders sein.«
»Während der letzten Rast, als ihr geschlafen habt, habe ich den Dämon noch einmal verhört. Er hat ausdrücklich gesagt, dass Liam in diesen Ruinen gelandet ist.«
Vivanas Vater aß ein paar Trockenfrüchte. »Hat er noch mehr gesagt? Irgendetwas, mit dem wir die Suche auf einen bestimmten Bereich eingrenzen können? Ihr habt gesehen, wie groß die Ruinen sind. Es wird Tage dauern, alles abzusuchen, selbst wenn wir systematisch vorgehen.«
»Leider nein«, erwiderte Lucien. »Deswegen sollten wir keine Zeit vergeuden.«
Kurz darauf verließen sie ihr Versteck. Lucien stieg auf den höchsten Trümmerhaufen, um sich einen Überblick über das Gelände zu verschaffen, allerdings konnte er wegen des Dunstes nicht sonderlich viel erkennen. Sie beschlossen daher, zuerst das Flussufer abzusuchen und sich dann tiefer in die Ruinen vorzuarbeiten.
Während sie am Fluss entlanggingen und nach Liam riefen, kamen sie ständig an gewaltigen Mauerresten vorbei, an Pfeilern, die der mächtigen Säule auf dem Platz ähnelten, an Rampen und Treppen, die zu höher gelegenen Bereichen führten. Das kathedralenartige Dach hoch über ihren Köpfen schien große Löcher aufzuweisen oder die Ruinen nicht vollständig abzudecken, denn manchmal, wenn der Wind den Dunst für ein paar Augenblicke zerstreute, sah Vivana den glühenden Himmel anstelle der riesigen Rippenbögen. Turmhohe Steinwälle wuchsen aus dem Felsenboden, einige massiv, andere von wabenähnlichen Gewirren aus Kammern und Gängen durchsetzt. Welchem Zweck all das einst gedient hatte, blieb ein Geheimnis.
»Ich frage mich, wo der ganze Aetherdampf herkommt«, bemerkte Vivanas Vater irgendwann.
»Meinst du den goldenen Nebel?«
»Ich habe noch nie so viele Mengen davon gesehen«, fuhr er fort. »Irgendetwas muss ihn freigesetzt haben... eine unvorstellbar zerstörerische Kraft.«
Vivana dachte an ihre Vision, an den Krieg des Verlorenen Volkes gegen die Dämonen. »Magie?«
Er gab keine Antwort. »Seltsam ist auch, dass er sich nicht verflüchtigt. Normalerweise hält er sich keine fünf Minuten in der Luft. Vielleicht liegt es an den Lichtmauern. Wenn das Pandæmonium wirklich ein geschlossener Raum ist, wie Lucien behauptet, kann der Dampf nirgendwo hin. Bei Tessarion, ich wünschte wirklich, ich hätte meine Messgeräte mitgenommen. Dieser Ort ist eine Goldgrube für die Wissenschaft...« Mit unzufrieden gerunzelter Stirn zückte er sein Büchlein und machte sich Notizen.
Vivana seufzte. »Kann das nicht warten, bis wir Liam gefunden haben?«
Er hob den Kopf, noch ganz gefangen in seinen Überlegungen. »Ja. Natürlich«, sagte er. »Tut mir leid. Eine Berufskrankheit, schätze ich. Du hast recht: Liam ist jetzt wichtiger.« Er steckte sein Notizbuch weg.
Am Flussufer hielten sich hier und da kleinere Gruppen von verdammten Seelen auf, die sie jedoch ohne besondere Mühe umgehen konnten. Dämonen schien es hier keine zu geben – zumindest hatten sie bisher keinen einzigen gesehen. Trotzdem bestand Lucien darauf, dass sie stets zusammenblieben, denn auch ohne Dämonen waren die uralten und einsturzgefährdeten Ruinen alles andere als ungefährlich.
Schließlich versperrte ihnen ein Trümmerbrocken von der Größe des Bradoster Magistratspalastes den Weg. Der gewaltige Block war vermutlich von weit oben heruntergefallen und hatte im Umkreis von mehreren hundert Schritt den Uferfels zerschmettert. Das aschegraue Flusswasser staute sich dahinter und quoll schäumend durch die Engstelle zwischen der Barriere und der Steilwand. Die im Wasser gefangenen Seelen schrien hier besonders laut, so als litten sie Schmerzen.
Hinter dem Trümmerbrocken war die Ruine offenbar zu Ende – Vivana sah keine weiteren Pfeiler und Mauern, nur noch nackten Fels. Folglich hatten sie das gesamte Ufer innerhalb des Bauwerks abgesucht.
Müde suchten sie sich eine Stelle zum Rasten. Da in der Nähe des Flusses wegen der Schreie an Ruhe oder gar Schlaf nicht zu denken war, drangen sie tiefer in die Ruine vor. In einem kaum einsehbaren Hohlraum unter einem umgestürzten Pfeiler schlugen sie schließlich ihr Lager auf.
Gleich nach dem Aufwachen setzten sie die Suche fort. Die Ruine systematisch abzulaufen, war wegen der unregelmäßigen Architektur der Anlage und der zahllosen Hindernisse in Form von Schutthaufen, Felsspalten und Mauern so gut wie unmöglich. Vivanas Vater schlug deshalb vor, einen Lageplan des Bauwerks anzufertigen, damit sie wenigstens einen groben Überblick über das Gelände bekamen und nicht Gefahr liefen, im Kreis zu gehen. Er begann, auf einer Doppelseite seines Notizbuches eine Skizze anzufertigen. Lucien stand dem Vorhaben anfangs skeptisch gegenüber, doch als er feststellte, dass Vivanas Vater über ein außergewöhnliches räumliches Vorstellungsvermögen verfügte und der Lageplan mit der Zeit Form annahm, schwanden seine Zweifel.