Viele Stunden lang wanderten sie durch die Ruinen, riefen Liams Namen, leuchteten mit ihrer Karbidlampe in dunkle Öffnungen – und fanden trotzdem nicht den kleinsten Hinweis darauf, ob Liam je hier gewesen war, geschweige denn, ob er noch lebte. Laut ihrer Karte hatten sie nicht einmal ein Zehntel des Bauwerks abgesucht. Vivana sagte sich immer wieder, dass sie Geduld haben musste, dass sie so lange nicht die Hoffnung aufgeben durfte, bis sie nicht auch den Rest durchkämmt hatten. Trotzdem schwand ihre Zuversicht zusehends. Die Ruine war so unübersichtlich, dass sie Liam mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach übersahen, selbst wenn sie noch so gründlich suchten. Was, wenn er in einem der zahllosen Felslöcher lag, bewusstlos oder so schwer verletzt, dass er nicht auf sich aufmerksam machen konnte? Oder wenn er sich irgendwo in den unerreichbaren Höhen des Bauwerks befand, gefangen in einer fensterlosen Kammer tausend Schritt über dem Erdboden? Je länger Vivana darüber nachdachte, desto aussichtsloser erschien ihr ihre Suche, und am Ende des Tages war sie deswegen so verzweifelt, dass sie heimlich weinte.
Sie würden Liam niemals finden. Und sie würde nie erfahren, was mit ihm geschehen war.
Schließlich kehrten die Gefährten zu ihrem Lagerplatz unter dem geborstenen Pfeiler zurück. Niedergeschlagen aßen sie ein paar Bissen und legten sich hin. Der Tatzelwurm passte auf sie auf, während sie schliefen. In den vergangenen Tagen hatten sie gelernt, seinen scharfen Sinnen zu vertrauen.
Deswegen war Vivana sofort hellwach, als Ruac sie mit der Schnauze anstieß. Sie setzte sich auf und griff nach ihrem Messer. Es war still, abgesehen vom leisen Schnarchen ihres Vaters, der genau wie Lucien tief und fest schlief.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
Ruac züngelte und starrte mit aufgerichteten Rückenstacheln zum Eingang ihres Schlupflochs. Vorsichtig spähte sie nach draußen, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken.
Sie weckte ihre Begleiter. Ihr Vater brauchte eine Weile, um zu sich zu kommen. Lucien dagegen war augenblicklich munter und erfasste mit einem Blick auf Ruac die Situation.
»Ist da draußen jemand?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Irgendetwas hat Ruac gewittert.«
Er griff nach seinem Gürtel und zog einen Dolch. Als er gerade zum Eingang schleichen wollte, fiel etwas auf den Schutt, der in der Öffnung lag, und rutschte in den Hohlraum.
Vivana hielt vor Schreck die Luft an. Dann erst sah sie, um was es sich handelte.
»Meine Tasche!«, rief sie.
Sie hob das Lederstück auf. Kein Zweifel, es war die Umhängetasche, die sie mitgenommen hatte, als sie mit Liam in die Gemächer von Lady Sarka eingedrungen war. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Verschlüsse. Darin steckte ein Buch.
»Das Gelbe Buch von Yaro D’ar!« Vivana musste sich zwingen, nicht zu schreien. »Versteht ihr, was das heißt? Liam ist hier. Er würde nie ohne das Buch weggehen.«
»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Lucien. »Wenn er hier ist, wieso wirft er die Tasche herein, anstatt herzukommen?«
Vivana hörte ihm schon nicht mehr zu. Sie legte die Tasche auf den Boden und kletterte den Schutt hinauf. Lucien rief ihr etwas nach, doch da war sie bereits draußen und hastete auf den freien Platz vor den Trümmern. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie kaum noch Luft bekam. Liam lebte, sie hatte es immer gewusst. Und nun sah sie ihn endlich wieder, obwohl sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte.
»Liam!«, rief sie. »Bist du da?«
Sie hörte ein Geräusch und drehte sich um. Eine Gestalt sprang von einem der Schutthaufen, die den Zugang ihres Unterschlupfs umgaben.
Liam.
Sein Gesicht, seine Hände waren schwarz vor Schmutz, sein blondes Haar stand verfilzt in alle Richtungen ab, seine Kleider glichen Lumpen – aber er war wohlauf, unverletzt, am Leben. Vivana lachte vor Glück, als sie zu ihm rannte, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Aber warum kam er ihr nicht entgegen? Er stand einfach da, reglos wie eine Statue, das Gesicht unbewegt. Vivana ging langsamer. »Bist du in Ordnung?«, fragte sie verunsichert.
Keine Antwort. Nicht einmal der kleinste Laut. Seine Augen waren stumpf, ausdruckslos.
Erkannte er sie womöglich nicht? Hatte er so viel durchgemacht, dass er sich nicht an sie erinnerte?
»Liam, ich bin’s«, sagte sie. »Freust du dich nicht?«
Plötzlich trat Leben in seine Augen, erfüllte sie mit einem seltsamen Glanz, einem dunklen Feuer – und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Liam ist tot, kleiner Mensch«, krächzte er. »Sein Körper gehört jetzt mir, und ich gebe ihn nie wieder her.«
Seine Hand schnellte vor und schloss sich um ihre Kehle.
17
Albträume
Während die Wochen vergingen, lernte Jackon, in den Träumen zu kämpfen.
Er übte wie ein Besessener. Jedes Mal, wenn ihn das Morphium so müde machte, dass er sich hinlegen musste, jede Nacht, wenn er schlief, wanderte er durch seine Träume, auf der Suche nach der Tür seines Seelenhauses. Er wurde so gut darin, dass er bald nur noch wenige Augenblicke brauchte, sie aufzuspüren. Sowie er sie gefunden hatte, öffnete er sie und sprang zu einem kleinen Platz in der Nähe, auf den er bei seinen Streifzügen gestoßen war. Hohe Gebäude umgaben das gepflasterte Areal, mehrstöckige Seelenhäuser mit Türmen und steilen Giebeldächern, die ihn, so hoffte er, vor Aziels Blicken verbargen.
Dort erschuf er Träume.
Es funktionierte tatsächlich so ähnlich wie Springen. Er musste sich die Träume nur vorstellen, und schon erschienen sie: Produkte seiner Phantasie, denen die Traumsubstanz, die er gegessen hatte, Körper und Form verlieh. Sie wuchsen aus seiner Hand, unförmige Blasen, die zu Boden fielen, sich aufblähten und schließlich die Gestalt annahmen, die er für sie vorgesehen hatte.
Es war leichter als gedacht. Jackon hatte in seinem Leben schon so viele Albträume gehabt, dass an Angst einfößenden Ausgeburten seines Unterbewusstseins wahrlich kein Mangel herrschte. Er erschuf mordlüsterne Ghule und missgestaltete Riesen. Lebendig gewordene Schatten aus den Tiefen der Katakomben. Monströse Kanalratten. Ungeheuer mit Schwingen und Klauen. Spinnen, so groß wie eine Droschke und mit vor Gift triefenden Beißwerkzeugen. Und wenn ihm doch einmal die Ideen ausgingen, musste er nur einen Blick in die Fenster der umliegenden Seelenhäuser werfen. Irgendwo hatte immer jemand einen Albtraum, aus dem er sich Anregungen für neue Abscheulichkeiten holen konnte.
Anfangs wirkten seine Kreaturen noch unfertig und verschwommen. Mit wachsender Übung gelang es ihm jedoch, ihnen mehr Substanz und Kontur zu geben, sodass er manchmal vor seinen eigenen Schöpfungen erschrak, so lebensecht und real erschienen sie ihm. Er lernte, ihnen mit reiner Willenskraft Leben einzuhauchen und sie Kraft seines Verstandes wie Marionetten zu steuern, sie zu bewegen und mit Fangzähnen, Fäusten, Klauen und Stacheln angreifen zu lassen.
Er schuf zwei Albträume und ließ sie gegeneinander kämpfen. Nachdem er diese Übung gemeistert hatte, rief er vier Nachtmahre herbei und hetzte sie aufeinander. Dann sechs. Dann eine ganze Horde. Es kostete ihn seine gesamte Kraft, so viele verschiedene Geschöpfe zu kontrollieren, und mehr als einmal fürchtete er, vor Erschöpfung zusammenzubrechen und seinem Verstand damit unheilbaren Schaden zuzufügen. Doch er meisterte auch diese Herausforderung. Und er wurde immer besser.
All das tat er, um sich auf seine unvermeidliche Konfrontation mit Aziel vorzubereiten. Immer neue Variationen des Kampfes dachte er sich aus und spielte sie durch, damit er mit jeder erdenklichen Situation fertigwerden konnte.