»Inwiefern?«
»Es wird größer.«
»Nun, das war zu erwarten«, entgegnete Lady Sarka.
»Aber was mache ich, wenn es weiterwächst und die Nachbarhäuser kaputt macht? Oder wenn es anfängt zu zerfallen wie die vielen anderen Seelenhäuser und meine Träume nicht mehr...«
»Beruhige dich«, unterbrach sie ihn. »Was mit deinem Seelenhaus geschieht, hat nichts mit dem Chaos in den Traumlanden zu tun. Es ist ein vollkommen normaler Vorgang. Du bist gerade dabei, dich zu verändern – also verändert sich auch die Zuflucht deiner Seele.«
Er war so verblüfft, dass ihm für einen Moment die Worte fehlten. »Wirklich?«
»Natürlich. Du weißt doch, dass Seelenhäuser ein Abbild unserer Persönlichkeit sind. Unbedeutende und schwache Seelen haben kleine Häuser, während willensstarke und kluge in prächtigen Palästen wohnen. Du bist nicht mehr der kleine Schlammtaucher, der vor allem und jedem Angst hat. Du bist jetzt Jackon, der Traumwanderer. Dir steht ein größeres Seelenhaus zu.«
So hatte er das noch gar nicht betrachtet. Aber so, wie Lady Sarka es erklärte, ergab es einen Sinn. Jackon, der Traumwanderer. Stolz stieg in ihm auf. Plötzlich erschien es ihm wie die selbstverständlichste Sache der Welt, dass sein Seelenhaus wuchs.
Ein mächtiges Haus für eine mächtige Seele...
»Also mach dir keine Gedanken«, fuhr sie fort. »Es ist alles in bester Ordnung.«
Er beruhigte sich, zumindest was den Zustand seines Seelenhauses betraf. Allerdings waren da noch all die anderen Dinge, die er beobachtet hatte...
Lady Sarka spürte, dass ihn etwas bedrückte. »Möchtest du mir noch etwas sagen?«, fragte sie.
»Das Durcheinander in den Träumen... Die Boten und Sammler, die nicht mehr gehorchen... Ich glaube, es wird immer schlimmer.«
Der Klang ihrer Stimme veränderte sich, wurde härter, ungeduldiger. »Ich habe dir doch gesagt, dass du dir darüber nicht den Kopf zerbrechen sollst. Deine Ausbildung ist jetzt alles, was zählt.«
»Ich mache mir eben Sorgen«, beharrte er.
Lady Sarka seufzte. »Also gut. Hör mir zu, Jackon. Was gerade in der Stadt der Seelen geschieht, ist nur eine Phase des Übergangs. Du brauchst deswegen keine Angst zu haben. Bald schon haben sich die Träume stabilisiert, auch ohne die Alben. Dann wird alles wieder so sein, wie es immer war.«
»Seid Ihr sicher?«
»Habe ich mich jemals geirrt?«
»Nein«, gab er zögernd zu.
»Die Träume sind widerstandsfähiger, als du glaubst. Vertrau mir.« Sie lächelte ihn an, und der letzte Rest seiner Bedenken schwand.
Die Herrin hat Recht, dachte er wenig später, als er die Bibliothek verließ. Ich habe Besseres zu tun, als mir den Kopf über solche Sachen zu zerbrechen. Ich bin jetzt ein Traumwanderer.
Und das war das letzte Mal, dass er über den Zustand der Träume nachdachte.
Vorsichtig öffnete Umbra die Tür des Labors und warf einen Blick durch den Spalt. Erst als sie sicher war, dass sie nicht damit rechnen musste, von kochend heißen Dämpfen verbrüht oder von giftigen Gasen verätzt zu werden, trat sie ein.
Die Öfen waren kalt. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die alchymistischen Apparaturen auf dem Steintisch und die Werkzeuge und Chemikalien in den Regalen. Alles war nagelneu, vom kleinsten Stößel bis zum Athanor, denn Silas Torne hatte noch am Tag seines Einzuges dafür gesorgt, dass eine moderne Laboreinrichtung angeschafft wurde. Umbra wagte nicht daran zu denken, was all das gekostet hatte.
Ihre Miene verfinsterte sich, als sie Tornes neueste Erwerbung entdeckte: die Zentrifuge. Das Messingungetüm stand auf drei Beinen in einer Ecke und glitzerte provozierend im Licht der Gaslampen. Zwei Händler aus dem Kessel hatten sie geliefert und dreist achthundert Silberschilling dafür verlangt. Achthundert! Wenn Cedric oder ein anderer Diener eigenmächtig so viel Geld ausgegeben hätte, hätte Lady Sarka ihn in hohem Bogen hinausgeworfen. Aber Torne durfte das, obwohl er sich nicht einmal die Mühe machte, zu erklären, wofür genau er all die teuren Gerätschaften brauchte.
Ich hoffe für dich, dass das Geld gut angelegt ist, dachte Umbra, während sie das Chaos neben dem Steintisch durchquerte. Sonst wirst du dir gleich wünschen, du wärst zusammen mit deiner Hütte verbrannt.
»Torne?«, rief sie. »Komm raus, wenn du da bist.«
»Was willst du?«, erklang die Stimme des Alchymisten.
Umbra stieg über eine Kiste voller Tiegel und Phiolen, stieß sich das Schienbein an einem Eisenkessel und humpelte fluchend zum hinteren Teil des Labors, wo sie einen Vorhang zur Seite riss. Silas Torne stand vor ihr – splitterfasernackt. Blutegel krochen über seinen von Geschwüren und Ekzemen entstellten Körper und zogen Schleimspuren über die totenbleiche Haut.
Sie brauchte einen Moment, bis sie ihre Fassung zurückerlangte. »Wieso bist du nicht im Kuppelsaal? Lady Sarka wartet auf dich!«
»So? Weswegen denn?«
»Weißt du nicht, was heute für ein Tag ist?«
»Samstag, wenn mich nicht alles täuscht.«
Umbra versuchte angestrengt, nicht auf Tornes verschrumpeltes Gemächt zu schauen. »Nein! Ich meine, natürlich ist heute Samstag, aber das ist überhaupt nicht der Punkt. Worauf ich hinauswill, ist, dass wir, also sie...« Sie blinzelte. »Verdammt, Torne, zieh dir was an. So kann ich mich nicht konzentrieren.«
Der Alchymist machte keine Anstalten, sich zu bedecken. Er hockte sich auf einen Schemel und stellte die Füße in eine Kupferwanne mit grünlicher Flüssigkeit. Seelenruhig holte er zwei weitere Blutegel aus einem Einmachglas und setzte sich einen auf den Arm und den anderen auf den Bauch. Schaudernd stellte Umbra fest, dass die Tiere irgendetwas mit seinen Geschwüren anstellten.
»Du wolltest etwas sagen«, erinnerte Torne sie.
»Du sollst in den Kuppelsaal kommen und Lady Sarka den Doppelgänger übergeben.«
»Das kann nicht sein. Der Termin ist frühestens in zwei Wochen.«
»Du hattest sechs Wochen, und die sind um. Auf den Tag genau.«
»Tatsächlich?«
»Ja! Also, wo ist er?«
Torne lehnte sich zurück und starrte ins Nichts.
»Es gibt keinen Doppelgänger, richtig?«, fragte Umbra.
»Es gibt schon einen.«
»Aber?«
»Er ist nicht hier.«
»Was soll das heißen?«
»Ich dachte, es gäbe noch einen Doppelgänger in Bradost, den ich aufspüren und einfangen könnte, doch das war ein Irrtum. Offenbar hat er die Stadt schon vor einer Weile verlassen. Jetzt suche ich woanders. Allerdings ist das aufwändiger und langwieriger, als ich erwartet habe.«
»Mit anderen Worten: Du hast versagt.«
»Ich brauche nur mehr Zeit.«
»Du hattest genug Zeit«, knurrte Umbra. »Weißt du, was ich glaube? Du hast überhaupt nicht gesucht. Du hast dir ein schönes Leben auf Lady Sarkas Kosten gemacht, Unsummen für die Zentrifuge und den ganzen anderen Plunder verprasst und sechs Wochen lang weiß Gott was getrieben. Ich hätte es mir denken können. Ich war von Anfang an dagegen, mit einem Lügner und Giftmischer wie dir Geschäfte zu machen. Aber du hast uns lange genug zum Narren gehalten. Pack deine Sachen. In einer Stunde komme ich wieder. Wenn du dann noch hier bist, gnade dir Tessarion.«
»Du willst mich vor die Tür setzen?«, fragte Torne.
»Ich kann dich auch zu Lady Sarka bringen, damit du ihr persönlich erklärst, warum sie keinen Doppelgänger bekommt, wenn dir das lieber ist.«
Der Alchymist beugte sich nach vorne, und sein gesundes Auge glitzerte böse. »Darf ich dich daran erinnern, dass wir eine Abmachung haben? Sie lautet: Ich beschaffe euch einen Doppelgänger, und ihr seid mir im Gegenzug dabei behilflich, Lucien zu finden. Du hast mir sogar zugesichert, ihr würdet die Geheimpolizei und Corvas’ Krähen auf ihn ansetzen. Aber passiert ist bis jetzt nichts. Wenn also jemand einen Grund hat, sich über ausbleibende Resultate zu beklagen, bin ich das.«