Er musste lächeln, wenn er daran dachte. Wie naiv er damals gewesen war. Er hatte wirklich nicht die geringste Ahnung von den politischen Zuständen in der Stadt gehabt. Wie auch? Er war schließlich nur ein Schlammtaucher gewesen, mit dem geistigen Horizont einer Kanalratte. Glücklicherweise wusste er es inzwischen besser. Ein Moloch wie Bradost ließ sich nur mit harter Hand regieren, und Rebellen und Aufrührer verdienten keine Gnade. Das war nicht schön. Aber so sah die Welt nun einmal aus.
Nach einer Viertelstunde erreichten sie den Palast. Jackons Tag war jedoch noch lange nicht zu Ende. Schon in zwei Stunden wurde Lady Sarka in den Aetherküchen erwartet, deshalb befahl sie ihren Leibwächtern, rasch eine Kleinigkeit zu essen und sich frischzumachen, bevor sie weiterfuhren. Jackon ging auf sein Zimmer und zog die staubigen Kleider aus. Die Stelle, wo Seth ihn verletzt hatte, rieb er mit Salbe ein. Die Wunde war fast verheilt, er litt kaum noch Schmerzen und war wieder so kräftig und beweglich wie früher. Doch ganz verschwinden würde die Verletzung nie. Dicht über seinem Herzen befand sich eine sternförmige Narbe, die ihn immerzu daran erinnerte, wie knapp er dem Tod entronnen war.
Nachdem er sich umgezogen hatte, brachte Cedric ihm etwas zu essen. Jackon setzte sich und machte sich ein Brot. »Bring die schmutzigen Sachen in die Wäscherei«, befahl er dem Diener.
»Gewiss. Wünschen der Herr noch etwas Kaffee?«
»Klar, her damit.«
Cedric stellte ihm eine Tasse hin, nahm die staubigen Kleider an sich und verließ das Zimmer so lautlos wie ein Geist. Zufrieden mit sich trank Jackon einen Schluck. Von Cedrics Arroganz war kein Staubkorn mehr übrig. Vor ein paar Tagen hatte Jackon seine blasierte Überheblichkeit nicht mehr ertragen und ihn daraufhin in seinen Träumen aufgesucht. Er hatte ihm den Albtraum seines Lebens beschert und ihm klargemacht, dass er Nacht für Nacht wiederkommen würde, wenn Cedric sich nicht endlich benahm, wie es sich für einen Diener gehörte. Seitdem war der Mann die Unterwürfigkeit in Person und behandelte Jackon, als wäre er der Gottkönig von Varusia.
Wurde auch Zeit, dachte er mit finsterer Befriedigung. Er war ein Traumwanderer und Leibwächter der Lordkanzlerin. Niemand tanzte ihm mehr auf der Nase herum.
Am frühen Nachmittag fuhren sie los – diesmal nur mit einer Droschke, denn Corvas und Amander hatten andere Aufgaben und blieben im Palast. Sie fuhren nach Süden über die Chimärenbrücke, weiter zum Phönixplatz und am Luftschiffhafen vorbei. Jackon war noch nie auf dieser Seite des Flusses gewesen. Er konnte sich kaum sattsehen an dem Landefeld mit seinen Ankermasten, den muschelähnlichen Hangars und den prachtvollen Luftschiffen, die zur Sonne aufstiegen und über den Himmel glitten, mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die ihre Größe Lügen straften.
»Du bist noch nie mit einem Luftschiff gefahren, nicht wahr?«, fragte Lady Sarka.
»Nein«, murmelte Jackon.
Sie lächelte hintergründig.
Das Viertel, durch das sie anschließend fuhren, hatte keinen bestimmten Namen, denn es war noch recht neu. Da der Kessel längst überquoll vor Gebäuden, Maschinen und Arbeitern, wichen viele Fabrikanten in den Süden der Stadt aus und stampften beinahe täglich neue Manufakturen, Gießereien und Hochöfen aus dem Boden. Die Luft war erfüllt von Rauch, Dampf und dem Dröhnen der Apparate. Rostige Abwässer sammelten sich in den Kanälen und flossen ins nahe Meer. Aetherbetriebene Hängeloren ruckelten über die Bleidächer und beförderten Fässer, Erzbrocken und Maschinenteile zu den Schächten der Werkhallen.
An der Steilküste lagen die Aetherküchen, ein verschachtelter Komplex aus Ziegelsteinhallen mit gusseisernen Toren, weitläufigen Gewölbekellern und einem Wald aus Schloten, über dem Tag und Nacht eine Glocke aus goldenem Dunst hing. Das Lebenselixier der zivilisierten Welt, der Aether, wurde hier gewonnen und mit Fuhrwerken, Luftschiffen und Schaufelbarken in alle Himmelsrichtungen geliefert. Als er noch in den Kanälen gelebt hatte, waren Jackon die Aetherküchen immer wie ein mythischer Ort erschienen, unerreichbar für einen Schlammtaucher. Entsprechend aufgeregt war er, als die Droschke schließlich vor dem Gebäudekomplex hielt. Endlich lernte er die berühmten Hallen kennen, ohne die Bradost in Stillstand und Chaos versunken wäre.
Lady Sarka, Umbra und er stiegen aus und fanden sich vor dem Haupttor wieder. Der gepflasterte Vorplatz summte vor Geschäftigkeit. Heerscharen von Arbeitern verstauten kupferne Aetherfässer und -kapseln in Kisten und luden diese auf Paletten und Ochsenkarren. Alchymisten in fließenden Roben eilten hin und her, manche mit krakenartigen Atemmasken vor dem Gesicht. Männer, in lederne Schutzanzüge gehüllt, trugen bizarr aussehende Glaskolben von Halle zu Halle oder schoben seltsame Messingapparate ins Freie, wo sie sie zerlegten.
Der Hauptmann der Soldaten, die sie begleiteten, brüllte einen Befehl, woraufhin seine Männer Aufstellung bezogen. Augenblicklich kam die Betriebsamkeit zum Erliegen. Als die Alchymisten und Arbeiter Lady Sarka bemerkten, ließen sie alles stehen und liegen und senkten respektvoll die Köpfe.
Jackon ging mit Umbra und der Herrin über den Platz und fühlte sich wichtig und angesehen.
Ein Alchymist in einem bleigrauen Kapuzenumhang schritt ihnen entgegen, gestützt auf einen Stock mit silbernem Knauf. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Farbe, bedingt durch die jahrelange Arbeit mit giftigen Substanzen. Die rechte Gesichtshälfte verbarg er hinter einer Porzellanmaske, seine Hände steckten in Handschuhen. Jackon vermutete, dass der Mann schwere Verbrennungen erlitten hatte und den Anblick seiner verwüsteten Haut niemandem zumuten wollte.
Er ahnte, wen er vor sich hatte: Magister Harmon, den berühmten Leiter der Aetherküchen.
Der Alchymist machte eine Verbeugung, so weit es seine gebrechliche Gestalt zuließ. »Euer Gnaden«, sagte er. »Euer Besuch ist uns eine Ehre.«
Lady Sarka schenkte ihm ein Lächeln. »Die Ehre ist ganz meinerseits, Magister Harmon. Corvas hat mir berichtet, dass der Bau der neuen Halle große Fortschritte macht. Ich bin gespannt darauf, die Anlagen zu besichtigen.«
»Dank Eurer Anweisungen haben die Baumeister Außergewöhnliches geleistet. Aber überzeugt Euch selbst. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.«
»Lasst mich Euch vorher meinen neuen Leibwächter vorstellen«, erwiderte Lady Sarka. »Das ist Jackon. Er dient mir seit einigen Wochen.«
»Jackon«, wiederholte Magister Harmon mit einem warmen Lächeln. »Wir haben bereits von ihm gehört. Herzlich willkommen.«
Und dann – Jackon konnte es nicht fassen – verneigte sich der Magister vor ihm.
»Jackon besucht die Aetherküchen zum ersten Mal«, fuhr Lady Sarka fort. »Es wäre ihm eine Freude, wenn Ihr ihm ein wenig von Eurer Arbeit erzählen könntet.«
»Gewiss. Ich schlage vor, dass wir einen Rundgang durch die Anlagen machen und Euren Besuch mit der Besichtigung des neuen Trakts abschließen.«
Sie folgten dem greisen Alchymisten durch das Haupttor in eine große Halle. Die Männer und Frauen, die sich darin aufhielten, Alchymisten und Hilfskräfte, starrten Lady Sarka ehrfürchtig an, woraufhin ihnen der Magister befahl, weiterzuarbeiten.
»Meine Leute sind erleichtert, dass die Attentäter endlich hingerichtet wurden, wenn Ihr mir diese Bemerkung gestattet«, sagte Magister Harmon. »Seit Tagen reden sie von nichts anderem. Es hat ihnen sehr zu schaffen gemacht, dass unter den Verschwörern auch zwei Alchymisten waren. Sie haben befürchtet, diese Verräter könnten unsere gesamte Gilde in Misskredit bringen. Ihr könnt Euch vorstellen, wie froh sie waren, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.«
»Die beiden Männer waren verblendete Einzeltäter und hatten nichts mit der Gilde zu tun«, erwiderte Lady Sarka. »Ich weiß, dass Eure Leute treue Bürger Bradosts sind, nicht zuletzt dank Eurer Führung, mein Freund. Aber dieser Vorfall ist Vergangenheit. Lasst uns nun über erfreulichere Dinge sprechen.«