Jackon sah sich währenddessen neugierig um. Sie durchquerten die Halle auf einem eisernen Steg, der zwei Mannslängen über dem Boden verlief. Steinerne Pfeiler mit gewölbten Streben stützten die Decke, die wegen des Aetherdunstes in der Luft kaum zu erkennen war. Aus mehreren runden Schächten züngelten Flammen und leckten an gusseisernen Kesseln.
Mehr als hundert Menschen arbeiteten in der verwinkelten Halle, bedienten Zentrifugen oder andere kompliziert aussehende Apparate. Kupferrohre verbanden die Hochöfen und Maschinen miteinander, versehen mit Überdruckventilen, die zischend Dampf absonderten. Auf Steintischen standen alchymistische Gerätschaften – sie ähnelten jenen in den Palastlaboren, waren jedoch viel größer. Blubbernde Flüssigkeiten krochen durch die gläsernen Stutzen und Kolben.
Welchem Zweck all das diente, war Jackon ein Rätsel.
»Ich nehme an, du weißt, was Aether ist«, sagte Magister Harmon.
»Nicht genau«, erwiderte Jackon, der nicht die geringste Ahnung hatte.
»Aether ist der Grundstoff, aus dem jegliche Materie besteht«, erklärte der Alchymist. »Eine Art Urelement. Die Quintessenz der stofflichen Welt. In reiner Form handelt es sich um pure Energie, die die Kraft besitzt, tote Dinge zu beleben, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Das ist der Grund, warum wir mit Aether Maschinen und Motoren antreiben können, und das obendrein weit effektiver als mit Blitzen, Brennstoffen oder anderen Energiequellen.«
Jackon bemühte sich, eine kluge Frage zu stellen. »Wie wird er gewonnen?«
»Er ist in jedem Stück Materie enthalten. In den Bodenplatten, diesem Handlauf, sogar in der Luft, die wir just in diesem Moment atmen. Aber es wäre zu aufwändig, ihn aus gewöhnlicher Materie zu extrahieren, weswegen wir nur die vier Grundelemente verwenden.«
»Wasser, Erde, Luft und, äh, Feuer.« Jackon hatte einmal gehört, wie der Priester, der regelmäßig zum Predigen in die Kanäle kam, darüber gesprochen hatte.
»Korrekt. Aus diesen vier Grundstoffen besteht die materielle Welt. Letztlich sind sie nichts anderes als verdichteter Aether.« Magister Harmon deutete auf eine Maschine, eine Art Ofen, die von zwei Alchymisten bedient wurde. Sie schlossen einen Rauchglasbehälter an, woraufhin der darin gefangene Blitz in die Apparatur floss. Zahnräder und Kolben erwachten zum Leben. »Die Elektrizität spaltet das Wasser in dem Kupferkessel, sodass der Ofen es in reinen Aether zurückverwandeln kann. Ähnlich verfahren wir mit den anderen Elementen.«
Jackon sah, dass die Alchymisten den frischgewonnenen Aether mit Schläuchen in Kupferfässer füllten. »So einfach ist das?«
»Nicht ganz«, erwiderte der Magister lächelnd. »Aber die wissenschaftlichen Einzelheiten würden dich nur langweilen. Kommt, Euer Gnaden, hier entlang.«
Sie kamen in einen Hof, wo auf einer Plattform über den Hallendächern ein Luftschiff gelandet war. Die Aeronauten trugen Paletten mit Kupferfässern die Rampen hinauf und schafften sie in die Laderäume der Mannschaftsgondel.
»Die Aetherküchen arbeiten so effektiv, dass wir seit Jahren Überschüsse produzieren«, erklärte Magister Harmon nicht ohne Stolz. »Aether, der in Bradost nicht benötigt wird, verkaufen wir ins Ausland. Nach Torle und Übersee, sogar nach Yaro D’ar, Tausende Gallonen jeden Monat. Der Aetherhandel ist die Hauptursache für den wachsenden Wohlstand Bradosts.«
Ergriffen betrachtete Jackon das Luftschiff, dessen silberne Hülle in der Nachmittagssonne glitzerte. Einmal nur mit solch einem Wunderwerk der Technik in den Himmel aufsteigen, einmal nur...
»Hat Euch die neue Aetherbörse die erhofften Vorteile verschafft?«, erkundigte sich Lady Sarka.
»Sie hat unsere Erwartungen sogar noch übertroffen«, antwortete der leitende Alchymist. »Sie erleichtert den innerstädtischen Handel ungemein. Statt unzähliger Kleinhändler haben wir nun eine überschaubare Gruppe von lizenzierten Maklern, was sich günstig auf die Preise auswirkt. Und den Aetherschmuggel scheint es ebenfalls einzudämmen.«
Jackons Blick haftete an dem Luftschiff, bis sie den Hof verlassen hatten. Doch schon im nächsten Raum fesselte ein weiteres Wunder seine Aufmerksamkeit. Riesige Glaszylinder ragten bis zur kuppelförmigen Decke auf, angefüllt mit Aetherdampf, der den kreisrunden Saal in ein goldenes, beinahe magisches Glühen tauchte. Hier werde Aether aus der Luft gewonnen, erläuterte der Magister und fügte eine ausführliche Erklärung hinzu. Jackon jedoch war von dem Anblick so gebannt, dass er nur mit einem Ohr zuhörte. Und damit war der Rundgang noch lange nicht zu Ende. Magister Harmon führte sie von einem Ende der Aetherküchen zum anderen, und Jackon erschien es, als hielte jedes Gebäude, jeder Raum eine neue Kuriosität für ihn bereit, über die er staunen konnte.
Lady Sarka hatte ihm wahrlich eine neue Welt eröffnet, eine Welt voller überwältigender Überraschungen, in der man ihn obendrein mit Respekt und Wohlwollen behandelte. Noch vor ein paar Monaten hätte er das nie für möglich gehalten.
Er war von alldem so überwältigt, dass er die ganze Rückfahrt kein Wort herausbrachte.
»Unser Ausflug hat dir offenbar gefallen«, bemerkte Lady Sarka.
Jackon nickte.
»Ausgezeichnet. Dann kannst du dich schon auf morgen freuen.«
»Was ist morgen?«, fragte er.
Sie lächelte geheimnisvoll.
19
Phönix
Jackon zupfte sein Wams zurecht und betrachtete sich im Spiegel. Hose und Gehrock standen ihm ausgezeichnet, ebenso die frischgeputzten Halbstiefel. Den feinen Flaum an Wangen und Kinn hatte er sich abrasiert, das Haar an der Seite sorgfältig gescheitelt.
Ja, so konnte er sich sehen lassen. Er griff nach seinem Hut und machte sich auf den Weg nach unten.
Es war noch früh. Er hatte Cedric die Anweisung gegeben, ihn zur sechsten Stunde zu wecken, damit er genug Zeit hatte, sich fertig zu machen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was Lady Sarka im Schilde führte, aber er wollte sie auf keinen Fall warten lassen.
Er war so aufgeregt, dass er sich zwingen musste, nicht zu rennen.
Lady Sarka betrat kurz nach ihm die Eingangshalle. Sie sah wunderschön aus mit ihrem hochgesteckten Haar und dem karmesinroten Kleid, und ein betörender Duft umgab sie.
»Jackon«, sagte sie lächelnd. »Wie schön, dass du da bist. Lass uns gehen. Meine Droschke steht schon bereit.«
»Wo sind Umbra und die anderen?«
»Sie kommen nicht mit. Dieser Tag gehört dir allein.«
Verwirrt folgte er ihr nach draußen, wo sie Lady Sarkas Droschke bestiegen. Genau wie gestern wurden sie von berittenen Soldaten eskortiert.
»Wohin fahren wir?«, erkundigte er sich, als sich die Droschke in Bewegung setzte.
»Ich möchte dir ein Geschenk machen. Eines, das du nie vergessen wirst.«
»Ein Geschenk? Wofür?«
»Die letzten Monate waren nicht leicht für dich. Du hast hart an deinen Fähigkeiten gearbeitet und große Fortschritte gemacht. Es ist höchste Zeit, dass ich mich dafür erkenntlich zeige.«
Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Sie hatte ihm ein neues Leben ermöglicht, ihm ein prachtvolles Zimmer und haufenweise Kleider gegeben – und nun wollte sie ihm noch mehr schenken? »Aber... das ist doch nicht nötig.«
»Unsinn. Du hast es dir verdient, Jackon. Und jetzt will ich nichts mehr hören.«
Mit klopfendem Herzen blickte er aus dem Kutschenfenster und stellte fest, dass sie nach Süden fuhren, Richtung Magistratsgebäude. Es war ein schöner Spätsommermorgen, und die Gassen der Altstadt füllten sich allmählich mit Fußgängern und fliegenden Händlern. Tiefe Schatten herrschten in Torbögen und Innenhöfen, während Wetterfahnen, Kuppeldächer und Bleiglasfenster in den Strahlen der aufgehenden Sonne gleißten. Wenn er nur gewusst hätte, was Lady Sarka plante...