Sie fuhren denselben Weg wie gestern: über die Chimärenbrücke, vorbei am Phönixturm, von dort aus nach Osten. Nur dass sie diesmal nicht zu den Aetherküchen abbogen, sondern am Rand des Luftschiffhafens hielten.
»Steig aus, Jackon. Wir sind da.«
Die Soldaten warteten bei der Droschke, während Jackon und Lady Sarka über das Landefeld schritten. Die Luftschiffe, die an den stählernen Masten ankerten, wirkten aus der Nähe betrachtet noch gewaltiger. Mehr als ein Dutzend befanden sich auf dem Feld oder in den Hangars. Noch mal so viele kreisten am Himmel, setzten zur Landung an oder starteten gerade. Jackon wusste nicht, wohin er zuerst schauen sollte.
Plötzlich stellte er fest, dass sie geradewegs auf das größte Luftschiff zugingen. »Fliegen wir etwa damit?«, platzte es aus ihm heraus.
»Du magst doch Luftschiffe. Da dachte ich mir, dass dir ein Rundflug über Bradost gefallen könnte.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Schweigend betrachtete er das Luftschiff, ein gut und gerne zweihundert Schritt langes Ungetüm mit einem goldenen, von Flammen umgebenen Vogel auf den Flanken. Der Name des Schiffs stand auf der Gondel, doch Jackon war nicht in der Lage, das Wort zu entziffern.
»Die Phönix«, erklärte Lady Sarka. »Mein Flaggschiff. Gefällt es dir?«
»Es ist wundervoll«, hauchte er. Seit er sich erinnern konnte, wünschte er sich, er könnte einmal mit einem solchen Schiff zum Himmel aufsteigen. Manchmal hatte er Stunden am Flussufer gesessen und den startenden und landenden Zeppelinen zugeschaut, erfüllt von der Sehnsucht nach Freiheit, nach einer Weite, die es in den Kanälen nicht gab.
»Komm«, sagte Lady Sarka. »Die Mannschaft wartet schon auf uns.«
Armdicke Taue hielten das Luftschiff am Erdboden. Die Mitglieder der Haltemannschaften verneigten sich, als sie zur Gondel gingen. Die Holzwände waren mit Blechplatten gepanzert, und die kleinen Fenster konnten mit eisernen Klappen verschlossen werden, was dem Schiff ein militärisches Erscheinungsbild verlieh.
Neben der Klapptreppe zur Einstiegsluke erwartete sie ein Mann in schwarzer Lederuniform, deren Brustteil mit einem goldenen Phönix versehen war. Sein kantiger, haarloser Schädel war braun gebrannt und hatte offenbar schon so manchen Säbelhieb überstanden, den vielen Narben nach zu schließen. Die Offiziersmütze hatte er sich unter den Arm geklemmt, und seine blauen Augen leuchteten wie zwei Kristalle, als er die Herrin zur Begrüßung anlächelte. »Herzlich willkommen an Bord, Euer Gnaden«, sagte er.
»Das ist Koner Maer, der Kommandant der Phönix«, stellte Lady Sarka ihn vor.
»Und du musst Jackon sein«, sagte Koner Maer. »Wir haben schon viel von dir gehört. Es ist uns eine Ehre, dass du heute bei uns bist.«
Der Kommandant ließ ihnen den Vortritt und folgte ihnen ins Innere der Gondel, wo er sie zur Brücke führte. Hätte Jackon es nicht besser gewusst, hätte er angenommen, er beträte einen Salon im Palast. Sein Blick schweifte über holzgetäfelte Wände, Teppiche mit verschlungenen Mustern, vergoldete Türknäufe, geschnitzte Stützpfeiler, kupferne Kontrollen und riesige, in Messing eingefasste Fenster, und er vergaß bei all dieser Pracht, wie kriegerisch und abweisend das Schiff von außen aussah.
Die Besatzungsmitglieder, wie ihr Kommandant in Schwarz gekleidet, standen im Halbkreis auf der Brücke und verbeugten sich vor der Lady. »Auf eure Posten«, befahl Koner Maer, woraufhin die Männer und Frauen davoneilten oder Leitern emporkletterten. Jackon und Lady Sarka nahmen in zwei bequemen Sesseln Platz.
Er konnte noch immer nicht fassen, was gerade geschah. Er saß tatsächlich in einem Luftschiff.
Koner Maer rief Befehle in ein Sprachrohr. Die Steuermänner ergriffen die Ruder, und die Gondel vibrierte, als sich die riesigen Luftschrauben zu drehen begannen. Draußen lösten die Haltemannschaften die Taue von den Pflöcken, und geschmeidig, als bestünde die Phönix lediglich aus Luft und Seide, stieg sie auf.
Jackon beobachtete, wie die Taue eingeholt wurden und die Haltemannschaften zurückwichen, als die Besatzung Sandsäcke abwarf und die Wassertanks leerte, damit die Phönix schneller an Höhe gewann. Der Ankermast glitt unter ihnen hinweg, die Hallen und Gebäude des Hafens, und wenig später schwebten sie auf den Rodis zu: ein stahlblauer Strang, der in der Sonne schimmerte, bevölkert von Booten, Kähnen und aetherbetriebenen Heckschraubenbarken. Die Stadt breitete sich vor Jackon aus, und all die Paläste, Kirchen und Prachtbauten, bei deren Anblick er sich stets klein und unbedeutend gefühlt hatte, zogen nun wie verstreutes Spielzeug unter ihm dahin. Von Minute zu Minute stiegen sie höher auf, doch in seinem Sessel spürte er nichts davon, so geschickt beherrschten Koner Maer und seine Mannschaft ihr Handwerk.
Es wurde merklich kälter in der Gondel. Jackon und Lady Sarka zogen die Mäntel an, die für sie bereitlagen. Eine junge Aeronautin, die Jackon mit »Ihr« und »Euch« anredete, servierte ihnen Kaffee, dem Zimt und andere Gewürze ein exotisches und würziges Aroma verliehen.
Inzwischen befanden sie sich mehrere tausend Fuß über dem Erdboden. Der Anblick, der sich ihm darbot, war atemberaubend. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er, wie riesig Bradost wirklich war. Die Metropole breitete sich von der Küste zu beiden Seiten des Rodis über die Ebene aus, ein viele Meilen durchmessender Flickenteppich aus Straßen, Plätzen, Kanälen, Gärten und Häuserblocks, verschleiert vom Rauch aus zehntausend Kaminen.
Aber mehr noch beeindruckte ihn das, was sich jenseits der Stadtgrenzen befand: eine Landschaft, die fremdartiger war als alles, was er je gesehen hatte. Er kannte die richtigen Worte für die Dinge, die er erblickte, aber da er sie so gut wie nie gebrauchte, fielen sie ihm erst nach und nach ein. Plantagen, dachte er. Wiesen. Wälder. Hügel.
Hügel... Im Norden von Bradost erstreckte sich Karst, ein weites Land aus Schluchten und Felsgraten, karg und unbewohnt. Und im Süden das Meer: glitzernd wie ein Spiegel aus Saphir und so unermesslich groß, dass es bis zum Horizont reichte. Mit einem Kloß im Hals ließ Jackon seinen Blick über die endlosen Wellenkämme schweifen und dachte, wie arm sein Leben bis jetzt gewesen war. Es gab eine Welt außerhalb der Kanäle und Straßen Bradosts, und sie war wunderbarer, als er sich je hätte träumen lassen.
»Zitteranemonen auf Steuerbord!«, brüllte in diesem Moment der Beobachter. Koner Maer gab seinen Steuermännern einen Befehl, und die Luftschrauben heulten auf, als die Phönix den Kurs änderte und Richtung Meer beidrehte.
»Was ist los? Was ist los?«, fragte Jackon und sprang auf.
»Warte. Gleich siehst du es«, erwiderte Lady Sarka.
Eine seltsame Wolke erschien am Himmel und kam rasch näher... nein, keine Wolke, ein Schwarm exotischer Tiere. Ihr durchscheinender Schirm pulsierte rot, orange und violett, der Schweif aus Tentakeln wogte seltsam körperlos in den Luftströmungen, umspielt von winzigen Blitzentladungen, während sie an der Phönix vorbeischwebten. Bald war das Luftschiff von Hunderten dieser Geschöpfe umgeben, und das vielfarbige Glühen, das sie wie eine überirdische Aura umfing, erfüllte die Brücke.
»Sind sie nicht wunderschön?«, fragte Lady Sarka leise.
»Ja«, flüsterte Jackon.
Sie lächelte und ergriff seine Hand, und plötzlich war er so glücklich, dass er alles für sie getan hätte, alles.
Umbra saß im Salon und blätterte gerade in einer Zeitung, als Cedric hereinkam.
»Die Herrin ist zurück«, sagte der Diener. »Sie möchte Euch sprechen.«
»Heute ist mein freier Tag. Hat sie das vergessen?«