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»Heißt das, der Dämon ist in ihm?«

»So ungefähr.«

Vivana war nicht länger in der Lage, dem Gespräch zu folgen. Sie starrte Liam an, der allmählich zu sich kam.

Bist du wirklich tot?

Lucien und ihr Vater wandten sich zu ihr um. Sie begriff, dass sie ihre Gedanken offenbar laut ausgesprochen hatte.

»Hat das der Dämon gesagt?«, wollte Lucien wissen. »Dass Liam tot ist?«

Sie nickte. »Glaube ich nicht«, sagte der Alb. »Wahrscheinlich ist er noch da, gefangen in seinem eigenen Körper.«

Schweigend blickte Vivana ihn an. Sagte er das nur, um sie zu beruhigen?

Der Gedanke zerfaserte, löste sich auf. Sie fürchtete, dass sie den Verstand verlor, wenn ihr wirklich klar wurde, was geschehen war.

Liam kam wieder zu Bewusstsein. »Bindet mich los«, krächzte er.

»Gib diesen Körper frei, und du kannst gehen«, erwiderte Lucien.

»Du Narr! Ich könnte den Leib des Jungen in Stücke reißen, wenn ich wollte. Ich könnte ihn von innen heraus verbrennen oder von Maden auffressen lassen. Es gibt nichts, was ihr dagegen tun könntet.«

»Doch«, sagte der Alb und hob das Brandeisen auf.

Liams Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was ist das?«

»Das weißt du genau.«

»Das wagst du nicht! Du würdest den Jungen mit dem Ding töten.«

»Ich würde ihn schlimmstenfalls verletzen. Nestor, mach Feuer.«

»Komm mir nicht zu nahe«, fauchte der Dämon, als Lucien mit dem Brandeisen in den Händen zu ihm trat.

Vivanas Vater packte ihren Gaskocher aus und griff nach den Zündhölzern. Sie meinen es ernst, durchfuhr es Vivana. »Nein«, sagte sie und stand auf. »Hört auf. Das könnt ihr nicht tun.«

»Hör auf das Mädchen, Alb«, sagte der Dämon. »Du weißt nicht, was du dem Jungen damit antust.«

Lucien beachtete weder Vivana noch ihn. Er ging vor ihm in die Hocke und legte sich das Brandeisen über die Knie. »Lebt Liam noch?«

Der Dämon starrte ihn an. Ein fahler Glanz erfüllte seine Augen.

»Antworte!«

»Ja, er lebt noch. Ich habe ihn in einem Winkel seines Verstandes eingesperrt.«

»Wehe, du lügst.« Lucien legte das Brandeisen hin, schnitt mit dem Messer ein Stück von einer Decke ab und knebelte den Dämon, der schimpfte und schrie und sich vergeblich dagegen wehrte.

Anschließend bat Lucien Vivana und ihren Vater in eine Ecke der Höhle, wo sie sich leise unterhielten, damit der Dämon sie nicht hörte. Ruac saß neben ihm und züngelte feindselig.

»Das ist kein gewöhnlicher Dämon«, flüsterte Lucien. »Ich kann spüren, dass er stark ist.«

»Stärker als der Lügner?«, fragte Vivanas Vater.

»Ja. Dass er einen menschlichen Körper übernehmen kann, spricht dafür, dass wir es mit einem Belial zu tun haben. Oder einem anderen Erzdämon.«

»Und das heißt?«

Lucien antwortete nicht, aber er streifte Vivana mit einem Blick, der ihr den letzten Rest ihrer Zuversicht raubte. Lucien hatte kaum noch Hoffnung für Liam, sie sah es ihm an.

»Das Brandeisen«, murmelte sie. »Ich will nicht, dass du es benutzt.«

»Das hatte ich auch nicht vor. Ich wollte ihn nur einschüchtern.«

»Aber das Brandeisen ist vielleicht unsere einzige Chance«, widersprach ihr Vater. »Du könntest den Dämon brandmarken und ihm befehlen, Liams Körper zu verlassen.«

»Das ist zu gefährlich. Ich weiß nicht, ob das Brandzeichen bei einem gestohlenen Körper funktioniert. Möglicherweise hat es keine Macht. Oder es schadet Liam wirklich. Außerdem könnte es ihn töten, wenn der Dämon seinen Körper freigibt.«

Vivana hatte kaum noch Kraft, aufrecht zu stehen. »Ihn töten?«, wiederholte sie.

»Liam hat vermutlich seit Tagen nichts gegessen und getrunken. Wahrscheinlich hält ihn nur der Dämon am Leben.«

Alle drei blickten zu ihrem Gefangenen, der gegen seine Fesseln ankämpfte. Liam sah nicht gut aus – aber auch nicht so schlimm, wie man angesichts dessen, was er durchgemacht hatte, erwarten würde. Die dämonische Kraft in seinem Innern schien seinen Körper vor Schäden zu bewahren. Vivana fiel außerdem auf, dass er nirgendwo Verbrennungen aufwies, obwohl Seths Tor aus purem Feuer bestanden hatte. Natürlich – das javva, kam es ihr in den Sinn. Javva machte einen nicht nur unsichtbar für die Spiegelmänner, es heilte auch Wunden aller Art, solange die Wirkung anhielt. Liam hatte genug javva für ein paar Stunden eingenommen, bevor sie in den Palast von Lady Sarka eingedrungen waren. Vermutlich hatte es alle Verletzungen, die er durch Seths Angriff und kurz danach erlitten hatte, geheilt.

»Aber es muss doch irgendetwas geben, das wir tun können«, sagte sie.

»Vielleicht kann der Dämon ausgetrieben werden«, entgegnete Lucien zögernd.

»Kannst du das?«

»Nein. Und hier schon gar nicht. Wir müssen Liam nach Bradost bringen. Dort finden wir vielleicht jemanden, der ihm helfen kann.«

»Bleibt das Problem, dass er ohne den Dämon nicht leben kann«, warf Vivanas Vater ein.

»Wir päppeln ihn unterwegs auf, damit er wieder zu Kräften kommt«, sagte Vivana. »Das müsste doch klappen, oder?«

»Ich denke schon«, meinte Lucien.

Was der Dämon über Liam gesagt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. »Was, wenn der Dämon seine Drohung wahrmacht?«

»Und Liam zerfetzt oder verbrennt, meinst du?«

Sie nickte.

»Ich halte das für eine leere Drohung«, sagte der Alb. »Er hat seinen alten Körper aufgegeben, als er in Liam gefahren ist. Ohne Liam wäre er nur wieder der körperlose Geist, der er einst gewesen ist, bevor er seine dämonische Gestalt bekommen hat. Er wird alles tun, um das zu verhindern.«

»Trotzdem hast du nicht viel Hoffnung für Liam, nicht wahr?«, fragte sie leise.

Er schwieg. Nur wieder dieser Blick.

»Sag es mir. Bitte.«

»Nur sehr starke Menschen überstehen eine Besessenheit unbeschadet.«

»Liam ist stark«, sagte Vivana.

»Dann hat er vielleicht eine Chance. Jetzt pack deine Sachen. Wir sollten sofort aufbrechen.«

Hastig sammelten Vivana und ihr Vater ihr Gepäck auf. Lucien ging währenddessen zu ihrem Gefangenen. »Ich binde jetzt deine Füße los. Du wirst mit uns kommen, ohne Schwierigkeiten zu machen. Wenn du versuchst, zu fliehen, benutze ich das Brandeisen. Nicke, wenn du verstanden hast.«

Der Dämon gab einen wütenden Grunzlaut von sich. Dann nickte er.

Lucien löste den Knoten an seinen Füßen und hielt das Seilende fest, damit der Dämon nicht davonlaufen konnte. Seine Arme blieben auf dem Rücken gefesselt.

»Mh-mhhh-mh«, nuschelte er mit dem Stoffstreifen im Mund.

»Nein. Der Knebel bleibt.«

Vivana hob ihre alte Tasche auf. Die Verschlüsse waren offen, und der Rücken des Gelben Buches schaute heraus. Sie nahm es in die Hand und betrachtete den Phönix, der auf dem ledernen Einband abgebildet war. Mit diesem Buch hatte alles angefangen – seinetwegen hatte sich Liam in Todesgefahr begeben, seinetwegen war er ins Pandæmonium geschleudert worden. Plötzlich wurde sie so wütend, dass sie den Folianten am liebsten zerrissen hätte. Sie stopfte ihn in ihre Tasche, verschloss sie und hängte sie sich um.

Mit dem Dämon im Schlepptau wanderten sie Richtung Fluss, dem Geheul der verdammten Seelen entgegen. Die Geisterschar, der sie auf dem Herweg begegnet waren, hatte sich zerstreut, sodass sie ungehindert die Treppe hinaufgehen konnten. Der Aufstieg war noch anstrengender als der Weg hinunter, und es kam Vivana wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich die Felswand erreichten und schließlich das obere Ende der Treppe. Sie waren viel zu erschöpft, um weiterzugehen, deshalb schlugen sie am Rand der Schlucht ihr Lager auf.

Nachdem sie etwas gegessen hatten, fragte Vivanas Vater: »Müssen wir den ganzen Weg zum Tor zurückgehen?«