Vivana seufzte. »Lass uns darüber reden, wenn wir zuhause sind, in Ordnung? Im Moment haben wir genug andere Sorgen.«
Wenig später hatten sie die Schlucht hinter sich gelassen und wanderten durch das Gebirge. Vivanas Vater und Lucien wechselten sich damit ab, den Dämon zu führen. Ruac, der inzwischen so groß wie ein Wolfshund war, hielt sich stets in der Nähe ihres Gefangenen auf. Offenbar hatte es sich der Tatzelwurm zur Aufgabe gemacht, auf den Dämon aufzupassen.
Nach einer Weile fiel Vivana auf, dass sie nicht den Weg entlanggingen, auf dem sie gekommen waren. Sie sprach Lucien darauf an.
»Wir umgehen Nachachs Burg«, erklärte der Alb. »Das ist ein Umweg, aber ich halte das für sicherer. Mit ihm im Schlepptau« – er warf dem Dämon einen Blick zu – »will ich unter keinen Umständen Nachachs Blutsklaven begegnen.«
Nach ein paar Stunden rasteten sie. Vivana hielt an ihrem Vorhaben fest, Liam zu füttern, obwohl ihr schon den ganzen Tag davor graute, ihn wieder zwingen zu müssen, die Suppe zu essen. Doch wie es schien, hatte der Dämon aus dem Vorfall gelernt. Als sie den Knebel löste und den Löffel zu seinem Mund führte, aß er ohne Widerstand und gab keinen Ton von sich.
Der Gestank und die Bosheit, die von ihm ausgingen, waren unerträglich. Trotzdem blieb Vivana bei ihm sitzen, nachdem er aufgegessen hatte. Ihr Blick glitt über sein Gesicht, das so vertraut und gleichzeitig so fremd war.
Wo bist du, Liam?
»Kneble ihn«, forderte Lucien sie auf.
Sie hielt den Knebel in ihrer Hand, doch sie brachte es nicht über sich, ihn dem Dämon anzulegen. Manchmal war ihr, als durchdringe Liams Wesen die schmutzigen und verzerrten Gesichtszüge, als leuchte in seinen Augen ein Funken seiner Persönlichkeit auf, für eine Sekunde nur, bevor der Dämon wieder vollständig die Herrschaft über den Körper übernahm.
»Liam, kannst du mich hören?«, flüsterte sie.
»Nicht mit ihm reden!«, fuhr Lucien dazwischen.
Sie beachtete ihn nicht. »Sag etwas, Liam. Bitte.«
Der Dämon grinste und entblößte dabei schmutzig-gelbe Zähne. »Er kann dir nicht antworten. Und selbst wenn er könnte, würde er nicht wollen.«
»Warum nicht?«
»Weil du ihm gleichgültig bist.«
»Du lügst.«
»Ich kenne die Gefühle des Jungen«, fuhr der Dämon fort. »Er ist ein Teil von mir. Ich weiß, was er denkt und fühlt. Er empfindet nichts für dich. Er hat dir nur etwas vorgemacht, damit du ihm hilfst.«
Jedes Wort traf Vivana wie ein Schlag ins Gesicht. »Das ist nicht wahr«, sagte sie leise. »Ich weiß, dass er mich liebt.«
Die Züge des Dämons veränderten sich und wurden weicher, als die Bosheit daraus verschwand. Die Grausamkeit in seinen Augen wich dem klugen und aufmerksamen Glitzern, das sie so gut kannte. »Du täuschst dich«, sagte er mit einer Stimme, die plötzlich genau wie Liams klang. »Ich liebe dich nicht und werde es niemals tun. Ist das so schwer zu verstehen?«
Liams Gesicht veränderte sich abermals, und das dämonische Grinsen kehrte zurück.
»Nicht!«, stieß Vivana hervor und packte den Dämon an den Schultern. »Liam, bleib da...«
»Das reicht jetzt«, knurrte Lucien. Unsanft nahm er ihr den Knebel weg und stopfte ihn dem Dämon in den Mund.
21
Dämonen
Nach ein paar Stunden Rast setzten sie ihren Marsch durch die Berge fort. Beißender Wind peitschte Staubschwaden durch die Täler und Klüfte und trieb den goldenen Dunst auf den Felskämmen auseinander.
Vivana sprach kaum ein Wort. Unentwegt musste sie daran denken, was der Dämon – oder Liam – gesagt hatte.
Ich liebe dich nicht und werde es niemals tun.
Ich liebe dich nicht...
Seit Stunden kreisten diese Worte in ihrem Kopf – und als wäre der Kummer, den sie deswegen empfand, nicht genug, ärgerte sie sich auch über sich selbst. Sie hätte nie mit dem Dämon reden dürfen. Warum hatte sie nicht auf Lucien gehört?
»Hör auf zu grübeln«, sagte der Alb irgendwann. »Das ist doch genau das, was er will.«
»Das war nicht Liam, oder?«
»Natürlich nicht. Er hat versucht, dich zu täuschen. Er will, dass du schwach wirst, damit du Fehler machst.«
»Diesen Gefallen tue ich ihm nicht«, sagte Vivana grimmig.
Lucien lächelte im Schatten seiner Kapuze und legte den Arm um sie. »Gut so. Lass dich nicht unterkriegen. Denk daran, was wir schon alles geschafft haben. Wir sind durch das halbe Pandæmonium gewandert, haben Dämonen und verdammte Seelen überlistet und Liam gefunden. Da sollte der Rest doch ein Kinderspiel sein, oder?«
»Ja.« Jetzt musste auch Vivana lächeln. Es tat gut, mit Lucien zu reden. Dennoch blieb ein Rest von Zweifel. Was, wenn er sich irrt? Wenn es wirklich Liam war, der zu mir gesprochen hat? Sie versuchte, nicht mehr daran zu denken.
Eine Weile gingen sie Arm in Arm den von Felsen gesäumten Pfad entlang.
»Wieso hat der Dämon das getan?«, fragte Vivana. »Liam den Körper gestohlen, meine ich.«
»Dämonen verabscheuen ihre eigene Gestalt. Sie wissen, dass sie hässlich sind, und sehnen sich insgeheim nach einem menschlichen Körper. Deswegen zögern sie nicht, ihren Dämonenleib aufzugeben, wenn sie jemanden gefunden haben, von dem sie Besitz ergreifen können.«
»Du hast gesagt, nur starke Menschen überstehen eine Besessenheit. Was geschieht, wenn man schwach ist?«
Lucien schwieg einen Moment, ehe er erwiderte: »Du solltest nicht zu viel über diese Dinge nachdenken.«
Vivana blieb stehen. »Du brauchst mich nicht zu schonen. Ich komme schon damit klar.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Am schlimmsten ist für mich die Ungewissheit.«
»Wie du meinst«, sagte Lucien zweifelnd. »Also, dämonische Besessenheit greift die Seele an. Der Betroffene kann den Verstand verlieren oder krank werden. Außerdem verändert sich mit der Zeit sein Körper, denn der menschliche Leib ist nicht dafür geschaffen... Was machst du da?«
Vivana hatte im Wind Geräusche gehört, die wie Stimmen klangen, und lief geduckt zu einem Felsen. Dahinter befand sich ein steiler Abhang, an dessen Fuß sich zwei vierbeinige Krieger aufhielten.
»Dämonen!«, stieß sie hervor.
Lucien bedeutete ihrem Vater, der den Liam-Dämon führte und etwas zurückgefallen war, mit einem Handzeichen, stehen zu bleiben. Dann kam er zu ihr gelaufen und ging neben ihr in Deckung.
Vivana biss sich auf die Lippe und beobachtete die beiden Krieger. Die Geschöpfe stocherten mit ihren Lanzen in einer Erdspalte herum und unterhielten sich zischend. »Was machen sie da?«
»Sieht ganz so aus, als würden sie etwas suchen.«
»Uns?«
Lucien gab keine Antwort. Sie konnte ihm die Anspannung ansehen.
»Sind das Blutsklaven von Nachach?«, fragte Vivana flüsternd.
»Wenn, dann ist Nachachs Reich größer, als ich dachte.« Sie atmeten auf, als die Dämonen kurz darauf im Dunst verschwanden. Anschließend gingen sie zu Vivanas Vater, der mit Ruac und ihrem Gefangenen im Schutz einiger Felsen wartete.
»Ab jetzt bleiben wir dicht zusammen«, sagte Lucien. »Wenn wir wieder einer Patrouille begegnen, müssen wir in der Lage sein, uns rasch zu verstecken.«
Allmählich erreichten sie die Randregionen des Gebirges. Die Bergmassive wichen Hügeln, die genauso karg und zerklüftet, aber nicht annähernd so hoch waren. Vivana roch beißenden Gestank im Wind, der von den Schwefeltümpeln in der Ebene kam. Nicht mehr weit bis zum Tor, dachte sie und verspürte zum ersten Mal seit einer Ewigkeit leise Zuversicht.