Lange sprach niemand. Vivana lauschte dem Herzschlag der Festung und dem fernen Geschrei der Dämonen, das immer wilder, immer ausgelassener wurde. Ihre Angst war einer seltsamen Ruhe gewichen. Wir werden sterben, dachte sie – und dann: Nein, Paps und Lucien werden sterben. Ich werde leben, als Hülle für Nachach. Sie schloss die Augen, und ihr war, als treibe sie in einem Ozean aus Finsternis.
Als ein Schlüssel im Schloss knirschte, schreckte sie auf. Die Ranken hatten sich so weit gelockert, dass sie sich aufsetzen konnte.
Eine Gestalt kam herein, gekleidet in einen dunkelroten Anzug. Über ihrem Handteller schwebte eine Flamme.
»Ein Mädchen, ein alter Mann und ein abgehalfterter Alb«, sagte Seth. »Ihr seid wirklich ein kurioser Haufen. So etwas sieht man im Pandæmonium nicht alle Tage.«
»Was willst du?«, fragte Lucien barsch.
»Nun, ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so bald wiedersehen, alter Freund. Da gehört es sich, dass man wenigstens guten Tag sagt.«
»Na schön. Das hast du getan. Jetzt kannst du wieder verschwinden.«
Seth ging vor Lucien in die Hocke. Die Flamme schwebte von seiner Hand unter die Decke und erfüllte die Kerkerzelle mit geisterhaftem Licht. Vivana bemerkte, dass der Incubus unverletzt war – die Schusswunden, die Liam ihm zugefügt hatte, waren verschwunden. Offenbar genasen Dämonen viel schneller als Menschen.
»Willst du gar nicht wissen, warum ich hier bin?«, fragte der Halbdämon freundlich.
»Lass mich raten«, erwiderte Lucien. »Nach Aziels Niederlage hast du ihn im Stich gelassen und bist ins Pandæmonium geflohen. Du magst keine Verlierer. Stattdessen hast du dir einen neuen Herrn gesucht. Einen mächtigeren, einen mit besseren Aussichten für die Zukunft. Deswegen musste es schon ein Dämonenfürst wie Nachach sein, nicht wahr?«
Seth lachte leise. »Ausgerechnet du wirfst mir vor, ich hätte Aziel im Stich gelassen? Ich war es nicht, der ihn fast getötet hat.«
»Wenigstens habe ich ihn nicht verraten. Bei mir wusste er immer, woran er ist.«
»Gut. Dann bin ich eben ein Verräter. Das kümmert mich einen Dreck. Aziels Ära ist vorbei. Die Zukunft gehört uns Dämonen.«
»Was meinst du damit?«
Seth stand auf und blickte spöttisch auf Lucien herab. »Das wirst du schon noch sehen – vorausgesetzt, du lebst lange genug, was bezweifelt werden darf.«
Lucien spannte seine Muskeln an, als wollte er den Incubus anspringen. Doch als er sich in seinen Fesseln bewegte, zogen sich die Ranken augenblicklich fester um seine Arme und Beine.
»Noch nie hat jemand Nachachs Kerker lebendig verlassen«, bemerkte der Halbdämon. »Nicht einmal du schaffst das, Meisterdieb. Also gib es auf und genieße deine letzten Stunden.«
Vivanas Vater hatte die ganze Zeit geschwiegen. Als er zu sprechen begann, klang seine Stimme rau und belegt. »Was hat Nachach mit uns vor?«
»Woher soll ich das wissen? Nachach ist so launisch wie ein Fischweib. Was er eben entschieden hat, ist schon im nächsten Moment nicht mehr von Belang. Vielleicht tötet er dich und den Alb. Vielleicht schenkt er deinen Körper einem seiner Blutsklaven, nachdem er dich gefoltert hat. Sicher ist nur, dass er den Leib deiner Tochter für sich beansprucht. Er scheint sich richtig in sie verliebt zu haben. Kein Wunder, sie ist ja auch ein hübsches Ding.«
Vivana hätte nicht gedacht, dass sie fähig war, so viel Abscheu zu verspüren, wie sie in diesem Moment für Seth empfand. »Liam hätte dich töten sollen, als er die Chance dazu hatte«, flüsterte sie.
»Dein Liam ist ein Narr. Er hat bekommen, was er verdient.« Seth lachte. »Besessen von Nachachs Bruder – ist das nicht eine wundervolle Ironie?«
»Willst du behaupten, du hast das geplant?«, fragte Lucien.
»Nein. Ich wollte, dass er einen langsamen und qualvollen Tod stirbt. Aber was stattdessen geschehen ist, gefällt mir viel besser. Das liebe ich so am Pandæmonium: Es steckt voller Überaschungen.«
Vivana hätte den Incubus am liebsten angesprungen, so heftig war ihr Hass auf ihn. Doch die Ranken reagierten auf die kleinste Bewegung und fesselten sie an den Boden der Kammer, sodass sie nichts tun konnte. Sie fühlte sich hilflos und ohnmächtig, und das machte ihren Zorn schier unerträglich.
»Genug geplaudert«, meinte Seth schließlich. »Oben findet ein Fest statt, das ich nur ungern verpasse. Gehabt euch wohl, Freunde. Wir sehen uns in der Folterkammer.«
Kichernd verließ er die Zelle. Als die Tür ins Schloss fiel, erlosch die Flamme unter der Decke. Finsternis senkte sich herab.
In der Ferne kreischten und johlten die Dämonen zum Klang von Trommeln und Pfeifen.
22
Aziel
Mehr als ein Dutzend Albträume kauerten auf dem Platz und warteten auf Jackons Befehle. Riesenspinnen waren darunter, Ratten so groß wie ein Ochse, Gebilde aus Schatten und Klingen – Ungeheuer und Manifestationen seiner schlimmsten Ängste, eine scheußlicher als die andere.
Jackon saß erschöpft auf dem Dach eines Seelenhauses. So viele Albträume auf einmal hatte er noch nie erschaffen und kontrolliert. Er hatte sie gegeneinander kämpfen lassen, hatte sich mit Helm und Schwert mitten ins Getümmel gestürzt, Schläge ausgeteilt und sich gegen Hiebe und Bisse verteidigt, bis jeder Muskel seines Körpers schmerzte. Jeder andere hätte den Verstand verloren bei dem Versuch, dieses Gewimmel zu beherrschen, oder wäre binnen weniger Sekunden von den Albträumen zerfetzt worden. Jackon jedoch hatte ihnen seinen Willen aufgezwungen, und sie gehorchten und taten alles, was er von ihnen verlangte. Und er hatte nicht den kleinsten Kratzer abbekommen.
Euphorie stieg in ihm auf, und er erwog, noch mehr Albträume zu erschaffen. Doch schließlich siegte die Vernunft. Er musste sich ausruhen. Jede Nacht an die Grenzen seiner Kräfte zu gehen war nicht der Sinn der Sache. Wenn er seinen persönlichen Rekord erst morgen brach, war das früh genug.
Er ließ die Albträume verschwinden und wachte auf.
Dass er sich im Traum so verausgabt hatte, spürte er auch im wachen Zustand. Er fühlte sich gerädert und abgespannt, obwohl er gut acht Stunden lang tief und fest geschlafen hatte. Es wurde höchste Zeit, dass er wieder einmal eine ganze Nacht träumte wie ein gewöhnlicher Mensch, ohne Albträume zu erschaffen oder irgendjemanden heimzusuchen.
Glücklicherweise hatte er heute keinerlei Verpflichtungen. Er blieb noch eine Weile im Bett liegen und döste vor sich hin, dann stand er auf und aß das Frühstück, das Cedric ihm brachte. Umbra, Corvas und Amander waren nicht da, sodass er den Südflügel für sich allein hatte. Er drehte sein Aethergrammophon auf volle Lautstärke auf und hörte Musik, bis ihm langweilig wurde. Anschließend zog er sich an, schlenderte durch die Altstadt und machte ein paar Besorgungen.
Anfangs war es ihm schwergefallen, nur zum Vergnügen Geld auszugeben. Sein ganzes Leben lang hatte er kaum genug besessen, um den nächsten Tag zu überstehen. In den Diensten Lady Sarkas jedoch bekam er so viel Lohn, dass er sich jeden Tag etwas kaufen konnte, das ihm gefiel, zumal er weder für Essen noch für ein Dach über dem Kopf aufkommen musste. Heute kaufte er sich einen neuen Hut. Eigentlich besaß er bereits drei Hüte, aber dieser hatte es ihm angetan, denn er war elegant und gleichzeitig streng geformt – genau die richtige Kopfbedeckung für einen Leibwächter von Lady Sarka. Außerdem liebte er den Vorgang des Einkaufens. Inzwischen hatte es sich in der ganzen Stadt herumgesprochen, wer er war. Die Händler nannten ihn »Herr«, umschwärmten ihn in Scharen, lasen ihm alle Wünsche von den Augen ab und gaben ihm großzügig Rabatt.