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Es dauerte nicht lange, bis das Bittergras Wirkung zeigte. Kurz darauf schlief er ein.

Er fand sich in seinem Seelenhaus wieder, wo seine Träume erwachten und ihn mit verwirrenden Bildern umgarnten. Er fokussierte seine Gedanken auf seine Aufgabe, verließ das Haus und sprang auf einen nahen Turm. Von dem Dach des Gebäudes aus blickte er über die verfallende Stadt der Seelen und spähte zu Aziels Palast, dessen Mauern und Minarette in der Ferne aufragten.

Jetzt ist es also so weit, dachte er, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Sprung.

Keinen Wimpernschlag später ragte das dunkle Schloss vor ihm auf. Windböen rissen an seiner Kleidung und wirbelten den Silberstaub auf, der sich auf Zinnen und Dachschrägen ablagerte. In den Seelenhäusern, die den weiten Platz umgaben, flüsterten die Träume.

Ein festes Tor, das bei seinem ersten Besuch noch nicht da gewesen war, verschloss den Eingang. Jackon rüttelte daran. Es gab nicht nach.

Sollte er ins Innere des Palastes springen? Nein. Er kam als Herausforderer. Er schlich sich nicht an.

»Aziel!«, rief er zu den Zinnen hinauf. »Zeig dich!«

Keine Antwort.

Grimmig runzelte er die Stirn und streckte den Arm aus. Eine Blase aus Traumsubstanz wuchs aus seiner Handfläche, fiel zu Boden und wuchs zu einem Koloss heran, zu einem hässlichen Riesen, der eine gewaltige Axt schwang. Der Gigant warf sich gegen das Tor, das schon beim ersten Ansturm barst und in sich zusammenfiel.

»Folge mir«, befahl Jackon, stieg über das gesplitterte Holz und betrat die Festung.

Mit dem Traumkoloss im Schlepptau schritt er durch Korridore und Hallen und rief Aziels Namen. Nichts geschah. Der Palast war noch stiller und verlassener als beim letzten Mal.

Schließlich, im großen Saal im Herzen des Schlosses, zeigte sich der Herr der Träume. Er trat aus den Schatten und blieb im Zwielicht zwischen den Säulen stehen.

Jackon hätte ihn beinahe nicht erkannt. Aziel wirkte alt. Er war abgemagert und ging leicht nach vorne gebeugt, als hätte er nicht genug Kraft, sich vollständig aufzurichten. Der Glanz seiner Augen war erloschen, ebenso die Aura der Macht, die ihn stets umgeben hatte. An der Art, wie er sich bewegte, sah Jackon, dass er Schmerzen litt. Selbst ein Blinder hätte gesehen, dass er sich von seinen Verletzungen längst nicht erholt hatte.

Und dennoch verspürte Jackon einen Anflug von Furcht beim Anblick des einstigen Albenkönigs. Hier stand das Geschöpf, das mit aller Macht versucht hatte, ihn zu töten. Das ihn hasste und bis ans Ende der Welt verfolgt hätte, wenn es nicht zu schwach gewesen wäre.

»Hallo Aziel«, sagte er.

Der Herr der Träume kam nicht näher. »Dir ist es also gelungen, dein Seelenhaus zu verlassen.«

»Natürlich. Hast du etwa geglaubt, diese lächerlichen Ranken würden mich aufhalten?«

»Du bist mächtig geworden. Bei unserer letzten Begegnung warst du noch ein kleiner, verängstigter Junge.«

Zorn keimte in Jackon auf und half ihm, seine Furcht zu bezwingen. »Bei unserer letzten Begegnung hast du versucht, mich zu töten!«

»Bist du deswegen hier? Weil du Rache willst?«

»Ja.«

»Das ist töricht. Begreifst du denn nicht, dass man dich nur benutzt?«

»Niemand benutzt mich. Ich bin hier, weil ich es so will!«

»Sei doch kein Narr. Du bist ein Diener von Lady Sarka, genau wie Corvas. Sie hat deinen Verstand vergiftet...«

Jackon hatte genug von Aziels Gerede. »Es reicht. Ich fordere dich heraus, Aziel. Kämpf gegen mich.«

»Du machst einen Fehler.«

»Kämpfe!«, schrie Jackon.

Er wartete nicht ab, ob Aziel seine Herausforderung annahm, sondern befahl dem Traumkoloss, anzugreifen. Gleichzeitig erschuf er weitere Albträume. Blase um Blase wuchs aus seiner Handfläche, rollte über den Steinboden und begann zu wachsen. Er arbeitete mechanisch, ohne nachzudenken, und spulte alles ab, was er in den vergangenen Wochen und Monaten gelernt hatte.

Jetzt würde sich zeigen, ob seine Kräfte ausreichten.

Auch Aziel rief Träume herbei. Zwei Angst einflößende Gestalten wuchsen in die Höhe und stellten sich dem heranstürmenden Koloss in den Weg. Keine Sekunde später brach der Kampf los und erfüllte die Halle mit flackernden Lichtern.

Neue Furcht wallte in Jackon auf, als er sah, wie die Träume gegeneinander kämpften. Er versuchte, ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren. Er machte sich einen Helm, einen Brustpanzer und eine Lanze und warf seine Nachtmahre ins Gefecht.

Wenig später wimmelte es zwischen den Säulen von Albträumen. Jackon konnte kaum noch sagen, welche seine waren und welche Aziel kontrollierte. Die Geschöpfe schlugen mit Klauen, Waffen, Stachelschwänzen und Speeren aus purer Finsternis auf ihre Gegner ein, sie zerhackten, zerstampften, verschlangen einander. Wenn ein Traum vernichtet wurde, wurde er augenblicklich ersetzt, formte sich ein anderer aus einer Blase aus Traumsubstanz und stürzte sich ins Getümmel.

Bei seinen Übungen hatte Jackon versucht, sich auf jede erdenkliche Situation, jede Variante des Kampfes vorzubereiten – doch damit hatte er nicht gerechnet. Dies war ein Gefecht auf Leben und Tod. Aziel strebte an, ihn zu vernichten, und dafür war ihm jedes Mittel recht. Er ließ seine Nachtmahre auf breiter Front angreifen, damit sie Jackons Verteidigungslinie durchbrachen und ihn umzingelten. Bald war Jackon gezwungen, sich gegen herabstoßende Dornen und zupackende Klauen zu wehren, sodass seine Konzentration nachließ und er seine Albträume nicht mehr wirkungsvoll lenken konnte. Einer nach dem anderen wurden sie vernichtet, und Jackon war so damit beschäftigt, um sein Leben zu kämpfen, dass er keine neuen erschaffen konnte.

Und das, obwohl Aziel sichtlich geschwächt war. Er konnte nur eine Hand voll Albträume kontrollieren, die obendrein nicht sonderlich widerstandsfähig waren. Doch was ihm an Kraft fehlte, machte der Herr der Träume durch jahrtausendelange Erfahrung mehr als wett.

Jackon wirbelte durch das Gewimmel der Traumgeschöpfe, wehrte Hiebe und Stiche mit seinem Schild ab und stieß seinen Speer in die halb materiellen Leiber. Da die Waffe für den Nahkampf nicht gut geeignet war, verwandelte er sie kurzerhand in einen Säbel, mit dem er nach missgestalteten Gliedmaßen schlug. Krallen schabten über seinen Brustpanzer, er duckte sich und hackte einer schattenhaften Riesenspinne zwei Beine ab.

Verzweifelt versuchte er, sich aus dem Getümmel freizukämpfen. Er musste sich unbedingt einen Überblick über den Kampf verschaffen – wenn ihm das nicht gelang, war er verloren. Wo war Aziel? Er konnte seinen Feind nirgends entdecken.

Er wich einem Keulenschlag aus und trieb einem zweiköpfigen Hünen sein Schwert in den Bauch, woraufhin das Geschöpf zu roher Traumsubstanz zerlief. Dadurch entstand eine Lücke in der Reihe seiner Gegner. Jackon hielt schützend seinen Schild vor sich, schwang sein Schwert und bahnte sich einen Weg durch die Albträume.

Er war noch keine drei Schritte weit gekommen, als er von hinten einen Schlag auf den Helm bekam, der seine Ohren klingeln ließ. Ächzend vor Schmerz fuhr er herum, um den Angreifer niederzustrecken, doch bevor er das Schwert heben konnte, erwischte ihn ein zweiter Hieb und schleuderte ihn durch die Luft. Er prallte gegen eine Säule und fiel zu Boden. Der Helm rutschte ihm über die Augen.

Alles drehte sich. Steh auf!, befahl er sich, war jedoch zu benommen. Er ließ den Helm verschwinden und blinzelte.

Er musste für eine Sekunde bewusstlos gewesen sein, denn seine Albträume taumelten orientierungslos durch die Gegend und wehrten sich nicht, als Aziels Nachtmahre sie zerstampften. Die Traumgeschöpfe seines Gegners machten jedoch keine Anstalten, ihn anzugreifen. Sie schienen abzuwarten. Zwei verschwammen und lösten sich schließlich in Traumsubstanz auf.