Jackon benötigte einen Moment, bis er begriff, was geschah. Er entdeckte Aziel auf der anderen Seite des Saales, wo er sich gegen eine Säule lehnte. Der Herr der Träume war erschöpft. Er besaß nicht mehr genug Kraft, um seine Kreaturen zum Angriff zu führen.
Jackon schöpfte neuen Mut. Schwankend richtete er sich auf, machte sich einen neuen Helm und ließ die Löcher und Kratzer in seinem Brustpanzer verschwinden, sodass die Rüstung wie neu schimmerte. Obwohl es kaum eine Stelle seines Körpers gab, die nicht schmerzte, gelang es ihm, seine Gedanken zu fokussieren. Blasen wuchsen aus seiner Hand und bildeten Albträume, erst vier, dann acht, dann ein ganzes Dutzend. Er war so wütend, dass er kaum noch atmen konnte. Aziel hatte ihn zum letzten Mal in Angst und Schrecken versetzt.
An der Spitze seiner albtraumhaften Horde schritt er durch den Saal.
Aziels Träume, nur noch drei an der Zahl, scharten sich um ihren Meister. Der einstige Albenkönig hob die Hand. »Warte«, sagte er schwach. »Lass uns reden.«
»Nein.«
»Ich werde nicht mehr versuchen, dich zu töten. Du hast mein Wort.«
»Dafür ist es jetzt zu spät.«
Und Jackon ließ seine Schar vorrücken.
Aziels Kreaturen bildeten eine Verteidigungslinie, die er verstärkte, indem er neue Träume erschuf. Seine Kraft reichte jedoch nicht mehr aus, ihnen Form zu geben, sodass sich aus den Blasen konturlose Wesen bildeten, Geschöpfe mit silbrigen Leibern und teigigen Gliedmaßen.
Der Kampf, der nun entbrannte, war heftig, aber kurz. Jackons Nachtmahre stürzten sich auf ihre Gegner und zerfetzten die schwachen und unfertigen Wesen regelrecht. In seiner Hilflosigkeit griff Aziel auf seine alte Strategie zurück und ließ zwei Träume durchbrechen, damit sie sich auf Jackon stürzten. Jackon verwandelte sein Schwert in eine Armbrust und schoss den ersten Angreifer nieder. Der zweite wollte ihn schon packen, doch er schlug die unförmige Hand mit seinem Schild zur Seite, sprang in die Höhe und machte sich im gleichen Moment ein Rapier, das er dem Wesen in den Leib stieß. Als er wieder auf dem Boden aufkam, hatte es sich bereits in eine Pfütze aus Traumsubstanz verwandelt.
Aziel hatte die Hälfte von Jackons Albträumen vernichtet, dabei allerdings fast alle seiner Kreaturen verloren. Jackon bündelte den Rest seiner Willenskraft und befahl seinen Traumgeschöpfen, Aziels letzten verbliebenen Nachtmahr zu vernichten. Einen Augenblick später war das Wesen verschwunden. Auch zwei von Jackons Albträumen lösten sich auf – erverfügte nicht mehr über genug Konzentration, um sie zu lenken. Die Übrigen verschwammen und wurden teilweise durchsichtig. Nicht mehr lange und sie würden ebenfalls verschwinden.
Aziel lag auf dem Boden. Erschöpft schlurfte Jackon zu ihm. Der einstige Albenkönig versuchte, ihn aufzuhalten, indem er neue Träume herbeirief. Zwei Blasen dehnten sich aus – und fielen schon im nächsten Moment wieder in sich zusammen. Der Herr der Träume hatte keine Kraft mehr.
Als Jackon vor ihm stand, sah er, dass Aziel verletzt war. Seine silbergraue Robe war zerfetzt; einer der Träume hatte seinen Arm aufgeschlitzt. Dunkles Blut sammelte sich auf den Steinfliesen.
»Gibst du auf?«, fragte Jackon.
Das Licht in Aziels Augen flackerte. »Habe ich... eine andere Wahl?«, flüsterte er.
Jackon fiel neben ihm auf die Knie und hielt ihm das Rapier an die Kehle. »Ich habe dich besiegt. Verschwinde von hier und kehre nie wieder zurück.«
Aziels Hand schloss sich um seinen Arm, die Finger gruben sich schmerzhaft in Jackons Fleisch. »Du bist mächtig, Traumwanderer. Mächtig, aber dumm. Bald schon wirst du all das bereuen.«
Und damit verschwand der Herr der Träume.
Lähmende Erschöpfung überkam Jackon. Er sank zusammen, blieb auf dem kühlen Boden liegen und blickte zur Hallendecke empor. Seine Waffe und seine Rüstung lösten sich auf, ebenso seine Albträume.
Er hatte gesiegt. Hatte Aziel bezwungen und verjagt. Leise begann er zu lachen, wenngleich sich das überwältigende Triumphgefühl, mit dem er gerechnet hatte, nicht einstellte. Er war viel zu erschöpft, um etwas anderes zu empfinden als bleierne Müdigkeit.
Er wusste nicht, wie lange er dalag, umgeben vom Zwielicht des Albenpalasts. Irgendwann erinnerte er sich an das Versprechen, das er Lady Sarka gegeben hatte. Als er sich kräftig genug fühlte, ihr Seelenhaus aufzusuchen, stand er auf und schleppte sich zum Tor des Palastes.
Er trat vor die Mauern, wo der ewige Wind an seinen Kleidern zerrte, schloss die Augen und dachte an ihr Gesicht, an ihre Stimme, ihre Art zu lächeln. Dann sprang er – und landete vor dem eindrucksvollsten Seelenhaus, das er je gesehen hatte.
Es stand auf einem Hügel, auf dessen Hängen verkrüppelte Pflanzen wuchsen, und ähnelte ihrem Anwesen in Bradost – nur dass es weitaus düsterer und beklemmender erschien. Es war das größte Seelenhaus weit und breit.
Jackon erinnerte sich daran, wie Lady Sarka ihm am Anfang seiner Ausbildung verboten hatte, hierherzukommen. Er schluckte. Dann öffnete er das Gittertor in der Palastmauer und folgte dem gewundenen Pfad zum Anwesen hinauf.
Schon von Weitem hörte er das Wispern der Träume und sah ihren verwirrenden Reigen aus Bildern, Farben und Gesichtern in den Fenstern. Also schlief Lady Sarka, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Augenblicklich umfingen ihn Träume, doch sie wirkten seltsam kraftlos, als wären sie noch nicht richtig zum Leben erwacht. Es dauerte nicht lange, bis er Lady Sarkas Seele fand. Er schritt durch die Zimmer und Flure und entdeckte sie schließlich in einem dunklen Abbild des Kuppelsaales.
In den Träumen war sie noch Ehrfurcht gebietender als in der Wachwelt. Wie eine Göttin der Nacht stand sie inmitten der wirbelnden Schatten, bleich und schön und mit einem kalten Glitzern in den Augen. Jackon hatte schon viele Seelen gesehen, aber noch nie eine, die so viel Macht verströmte. Doch das war nicht alles, was sie von gewöhnlichen Seelen unterschied: Feuer umgab sie, liebkoste ihre Haut und vermengte sich mit den Schatten, und Jackon war, als könne er Gesichter in den züngelnden Flammen erkennen, Augen und Münder, die aufblitzten und wieder verschwanden.
»Herrin«, sagte er und verneigte sich. »Ich habe getan, was Ihr befohlen habt. Aziel ist besiegt.«
Ihre Reaktion enttäuschte ihn ein wenig. Sie nickte nur. Kein Wort des Dankes, keine Geste der Anerkennung. »Bring mich zu seinem Palast.«
»Ihr könnt mir glauben. Er ist fort und wird nie mehr zurückkommen.«
»Nicht deswegen, du Narr«, herrschte sie ihn an. »Du sollst mich zu seinem Thron führen, damit ich mir hole, was mir zusteht.«
Jackon blinzelte. Erst nach einem Moment begriff er, worauf sie hinauswollte. »Ihr... wollt über die Träume herrschen?«, fragte er entgeistert.
»Die Ära der Schattenwesen ist vorbei. Es ist an der Zeit, dass wir Menschen die Träume regieren.«
»Warum sagt Ihr mir das erst jetzt?«
»Du bist mein Diener«, erwiderte sie barsch. »Ich bin dir keine Erklärung schuldig.«
»Aber Ihr könnt die Träume nicht allein beherrschen. Niemand kann das. Nicht einmal Aziel hat das geschafft. Seht Euch doch um. Alles geht kaputt...«
»Ich bin die Einzige, die die Macht hat, die Stadt der Seelen wiederherzustellen. Außerdem bin ich nicht allein. Ich habe dich.«
Bestürzt blickte er zu ihr auf. Sie hatte recht – sie war ihm keine Erklärung schuldig. Trotzdem fühlte er sich hintergangen.
Ihm kam ein aufrührerischer Gedanke: Was, wenn er sich einfach weigerte, sie zum Palast zu bringen? In den Träumen war schließlich er derjenige, der die Macht besaß. Ohne seine Unterstützung war sie hilflos und konnte nicht einmal ihr Seelenhaus verlassen.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, lächelte sie plötzlich. »Es tut mir leid, Jackon. Ich war ungerecht zu dir. Aber ich konnte dir meine Pläne nicht offenbaren. Die Gefahr war zu groß, dass meine Feinde davon erfahren hätten.«