»Ich hätte sie schon niemandem verraten.«
»Ich weiß. Du bist verlässlich und verschwiegen. Aber ich konnte nicht vorhersagen, wie der Kampf gegen Aziel ausgeht. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn er gewonnen hätte.«
»Trotzdem hättet Ihr mich nicht anlügen dürfen«, erwiderte er halbherzig.
»Hör zu, Jackon«, sagte sie. »Meine Herrschaft über Bradost ist ständig in Gefahr. Überall wimmelt es von Rebellen und Attentätern, die mir nach dem Leben trachten. Deswegen muss ich über die Träume herrschen – um meine Macht ein für alle Mal zu festigen, zum Wohle Bradosts. Das verstehst du doch, oder?«
Widerwillig spürte er, wie ihre Worte ihn besänftigten. »Aber wenn Ihr die Stadt der Seelen beherrscht, betrifft das nicht nur die Leute von Bradost. Es betrifft die Träume aller Menschen.«
»Du hast mein Wort, dass ich behutsam mit meiner Macht umgehe.« Sie legte ihm die Hand auf die Wange. Die Flammen berührten sein Gesicht, doch sie verbrannten es nicht, im Gegenteiclass="underline" Sie fühlten sich wohltuend an, wie Samt, der über seine Haut strich. Wieder erschien ein Gesicht darin und öffnete den Mund, als wollte es ihm etwas sagen. Es verschmolz mit dem orangefarbenen Schein des Feuers und verschwand. »Bringst du mich jetzt zum Palast?«, fragte Lady Sarka freundlich.
»Woher kommt dieses Feuer?«
»Eine Nachwirkung der Substanzen, die meine Träume unterdrückt haben. Nichts von Bedeutung.«
Jackon ergriff ihre Hand. »Es ist ein weiter Weg zum Palast. Wir müssen springen. Haltet Euch gut an mir fest.«
Er wusste, dass er kaum noch Kraft für einen Sprung hatte. Er ignorierte das Pochen in seinem Schädel, konzentrierte sich und sprang. Für einen Moment, kürzer als der Flügelschlag einer Libelle, drifteten seine Gedanken weg, mit dem Resultat, dass sie nicht vor dem Palasttor landeten, sondern einen Steinwurf davon entfernt. Jackon kam unsanft auf und stürzte zu Boden.
Lady Sarka wartete nicht, bis er sich aufgerappelt hatte, und schritt voraus, auf das Schloss zu. Jackon folgte ihr erschöpft und holte sie erst im Torbogen ein.
»Bring mich zu Aziels Thron«, befahl sie.
Er führte sie durch die Hallen zum großen Saal, wo er gegen Aziel gekämpft hatte. Silberstaub schimmerte in der Luft, die einzigen Überreste der Traumsubstanz, die sein Gegner und er verbraucht hatten.
Vor Aziels Thron ließ er ihre Hand los.
Der Herrschersitz stand in einer halbrunden Nische an der Stirnseite des Saales. Jackon konnte nicht sagen, aus welchem Material er gefertigt war. Es sah aus wie geschliffener Granit, doch die Muster und Reliefs auf dem Sockel und den Armlehnen veränderten sich ständig, so wie die Träume in den Seelenhäusern.
Langsam, Schritt für Schritt, stieg Lady Sarka die Stufen des Podestes hinauf. Beinahe andächtig fuhr sie mit der Hand über die Rückenlehne. Schließlich setzte sie sich.
Was dann geschah, war so fein und grazil, dass man nicht das Geringste sah oder hörte, und gleichzeitig so umwälzend, dass es die Träume von Millionen Menschen aufstörte. Aziels Niederlage hatte Kräfte freigesetzt, die seit dem Verschwinden des Albenkönigs keinen Fokus mehr besaßen und sich allmählich in der Stadt der Seelen verteilten. Als Lady Sarka auf dem Thron Platz nahm, bündelten sich diese Energien und strömten in den Palast, flossen unsichtbar durch die Korridore und sammelten sich in der Nische mit dem Herrschersitz, wo die Lady sie in sich aufnahm.
Nach ein paar Herzschlägen war es vorüber. Fröstelnd blickte Jackon zum Thron auf. Lady Sarka hatte sich nicht verändert, dennoch spürte er die neue Macht, die nun in ihrer Seele wohnte.
»Geh nach Hause, Jackon«, sagte sie. »Geh nach Hause und ruh dich aus.«
23
In Nachachs Kerker
Das Fest der Dämonen nahm kein Ende. Das Gelächter von Nachachs Blutsklaven und die misstönende Musik hallten durch die Tunnel der Festung und wurden immer schriller, immer ausgelassener. Erst viele Stunden, nachdem man Vivana und ihre Gefährten in den Kerker geworfen hatte, kehrte Ruhe ein. Erst verstummten die Trommeln und Pfeifen, dann die krächzenden und zirpenden Dämonenstimmen, bis schließlich Stille herrschte.
Vivana rechnete damit, dass jeden Moment die Zellentür aufschwang und man sie holen kam. Doch nichts dergleichen geschah. Sie stellte sich vor, wie Nachach und seine Gefolgsleute in der großen Halle lagen und schliefen, erschöpft von ihren wilden Tänzen und berauscht von dem widerwärtigen Sud, der in den Kesseln kochte.
Niemand sprach. Vivana, ihr Vater und Lucien hatten jeden Gedanken an Flucht längst aufgegeben. Zwar hatten sich ihre Fesseln inzwischen gelockert, doch kaum bewegte man sich zu hastig, zogen sie sich zusammen und schnitten schmerzhaft ins Fleisch. Die Ranken waren viel zu fest, um sie zu zerreißen, sogar für die mechanische Hand von Vivanas Vater. Ohne Hilfe hatten sie nicht den Hauch einer Chance.
Wir sind verloren, dachte Vivana. Seltsamerweise verspürte sie deswegen keine Angst. Nur ein überwältigendes Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Schuld, weil sie Lucien und ihren Vater in diese Sache hineingezogen hatte. Weil sie ihretwegen sterben würden.
Sie dachte an Liam und an ihren ersten Kuss in Lady Sarkas Palast. Die Erinnerung daran hatte ihr stets die Kraft gegeben, durchzuhalten und nicht den Mut zu verlieren, war ihre Lage noch so aussichtslos gewesen. Doch wie viel war diese Erinnerung wert, wenn Liam nichts für sie empfand? Sie versuchte, nicht an die Worte des Dämons zu denken, und sagte sich wieder und wieder, dass es nur Lügen waren, mit denen er sie verunsichern wollte. Die Zweifel blieben jedoch und wurden in der Dunkelheit des Kerkers immer quälender.
Der Gedanke, dass Liam sie nicht liebte, dass sie sich die ganze Zeit nur etwas vorgemacht hatte, war schlimmer als alles andere.
Sie bemerkte, dass ihre Gefährten sich leise unterhielten.
»›Die Zukunft gehört uns Dämonen‹«, wiederholte ihr Vater Seths Worte. »Was hat der rothaarige Kerl damit gemeint?«
»Vermutlich gar nichts«, erwiderte Lucien. »Seth ist ein aufgeblasener Wichtigtuer. Er wollte uns nur zeigen, dass er uns in der Hand hat.«
»Er mag dich nicht, was?«
»Ich habe ihn verwundet. Das vergisst er mir nicht so bald.«
Vivanas Vater schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich sollte mich bei dir entschuldigen. Bei euch beiden.«
»Wofür denn diesmal?«, fragte Vivana.
»Weil ich euch nicht geglaubt habe. Dass Liam im Pandæmonium ist, meine ich. Dass das Pandæmonium überhaupt existiert. Ich war ein verbohrter alter Mann, der nicht wahrhaben wollte, dass es Dinge gibt, die man nicht erklären kann.«
»Ja«, sagte Lucien. »Warst du. Davon abgesehen bist du kein übler Kerl... für einen Wissenschaftler.«
»Danke«, meinte ihr Vater trocken.
In diesem Moment näherten sich Geräusche der Zellentür. Schritte. Und wispernde Stimmen.
Jetzt ist es so weit. Augenblicklich spannte sich Vivanas ganzer Körper an.
»Wenn sie uns losgebunden haben, versuchen wir, zu entkommen«, flüsterte Lucien. »Wartet auf mein Zeichen.«
Was er vorschlug, war aussichtslos, ja verrückt – sie hatten keine Waffen, nichts, womit sie die Dämonen angreifen könnten. Dennoch machte sich Vivana bereit. Es war ihre einzige Chance.
Die Stimmen verstummten. Dann ließ ein Schlag die Tür erzittern. Was geht da vor? Warum benutzen sie nicht den Schlüssel?, dachte Vivana verwirrt. Noch ein Schlag und die Zellentür flog krachend auf. Fackellicht strömte herein. Nach den Stunden in der Finsternis war es so hell, dass sie geblendet die Augen zusammenkniff.