»Schneidet sie los«, rief jemand. »Macht schnell!«
Die Stimme klang vertraut. Als sich jemand an ihren Fesseln zu schaffen machte, hatten sich Vivanas Augen an die Helligkeit gewöhnt, sodass sie Einzelheiten erkennen konnte.
»Onkel Madalin!«, stieß sie entgeistert hervor.
Kein Zweifel, er war es wirklich. Der Manusch trug sein unverkennbares rotes Kopftuch und sein besticktes Wams. Mit einem Messer durchschnitt er die Ranken an ihren Armen.
Er grinste sie an. »Ich bin so froh, dich zu sehen. Geht es dir gut?«
Ihr Onkel war nicht allein. Vivana blinzelte gegen das Licht und sah drei weitere Gestalten: Madalins jüngere Brüder. Nedjo hielt die Fackel, während Jovan und Sandor ihren Vater und Lucien losschnitten.
War das ein Trick? Eine Illusion der Dämonen, um ihr erst Hoffnung zu machen und sie dann zu verhöhnen? Doch die vier Männer sahen so echt aus...
»W-was macht ihr hier?«, stammelte sie. »Wie habt ihr uns gefunden?«
»Livia ist fast verrückt geworden vor Angst um dich, als sie deinen Brief gelesen hat.« Madalin durchtrennte eine weitere Ranke. Der wurzelartige Strang verspritzte Schleim und verschwand zuckend im Boden. »Sie hat sich sofort auf die Suche nach dem Tor gemacht und drei Tage lang alte Bücher gewälzt. In einem gab es zum Glück einen Hinweis, dass es unter der Alten Arena versteckt ist. Wir sind eurer Spur gefolgt, aber in den Hügeln haben wir sie verloren. Livia hat euch schließlich mit einem Suchzauber gefunden.«
»Tante Livia?«, echote Vivana dumpf. »Heißt das, sie ist hier?«
»Sie wartet draußen und passt auf, ob jemand kommt. Ich sollte dich besser warnen: Sie ist ziemlich sauer auf dich.«
»Hört auf zu quatschen und beeilt euch!«, drängte Sandor.
Kurz darauf hatte Madalin sämtliche Fesseln entfernt. Vivana hatte so lange in gekrümmter Haltung dagesessen, dass sich ihre Beine taub anfühlten. Schwankend stand sie auf.
»Lass dich ansehen«, sagte Madalin und legte ihr die Hände auf die Schultern. Dann drückte er sie an sich. Vivana war so glücklich über diese unerwartete Rettung, dass sie gleichzeitig lachen und weinen musste. Nacheinander umarmte sie auch Nedjo, Jovan und Sandor und hätte sie am liebsten nie wieder losgelassen. Die Verzweiflung, die sie noch vor ein paar Minuten verspürt hatte, war vergessen.
»Ich nehme an, das ist der Alb, von dem du geschrieben hast«, sagte Madalin mit Blick auf Lucien.
»Ja.« Vivana bemerkte den Respekt in den Gesichtern der vier Männer. Die Manusch begegneten den Geschöpfen der Schattenwelt seit jeher mit großer Ehrfurcht. »Ihr könnt ihm vertrauen. Er ist mein Freund.«
Ihre Verwandten und Lucien begrüßten einander mit einem Kopfnicken. Ihren Vater dagegen beachteten die Manusch nicht. Sie mochten ihn nicht sonderlich – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Er bedankte sich mit keinem Ton für seine Rettung.
Die Manusch waren nicht nur mit Messern bewaffnet. An ihren Gürteln hingen handliche Armbrüste und Bolzentaschen; Nedjo trug außerdem einen Säbel. »Vielleicht müssen wir uns den Weg nach draußen freikämpfen«, sagte Madalin und drückte Vivana seine Armbrust in die Hand. »Kannst du damit umgehen?«
»Ich weiß, wie man mit einer Pistole schießt.«
»Eine Armbrust funktioniert genauso. Zielen und abdrücken. Ganz einfach.«
Nachdem Lucien und ihr Vater jeweils ein Messer bekommen hatten, verließen sie die Zelle und eilten im Licht von Nedjos Fackel durch die gewundenen Tunnel. Die Wände glitzerten feucht, und die Luft war stickig und heiß. Sie trafen keine Wachen; offenbar schliefen alle Bewohner der Burg ihren Rausch aus. Auf ihrem Weg durch die Gänge sahen sie lediglich einen vierbeinigen Krieger. Der Dämon lag tot in einem Winkel, durchbohrt von mehreren Armbrustbolzen.
»Wenn dich ein Dämon angreift, ziel immer auf den Kopf«, erklärte Madalin Vivana leise. »Alle anderen Treffer richten kaum etwas aus und machen sie nur wütend.«
Sie kamen zu der Öffnung, die zur Halle führte. Flackernder Feuerschein fiel durch das Loch, zu dem sich eine Rampe emporwand. Alles war still. Die Dämonen schienen tatsächlich zu schlafen.
Am Fuß des Aufgangs stand Tante Livia, die Arme vor der Brust verschränkt.
Vivana sah ihren Gesichtsausdruck und schluckte. Madalin hatte gehörig untertrieben: Die Wahrsagerin war nicht nur verärgert, sie kochte vor Wut.
Vivana konnte ihr nicht in die Augen schauen. »Hallo, Tante Livia«, murmelte sie. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Hallo und danke?«, erwiderte die Manusch. »Ist das alles, was du zu sagen hast?«
Vivana ahnte, dass es mit einer Entschuldigung nicht getan sein würde. Sie musste es trotzdem versuchen. »Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe. Ich hätte das nicht tun dürfen.«
»Angelogen? Du hast mich hintergangen!«
»Liam hat meine Hilfe gebraucht. Ich konnte ihn nicht allein gehen lassen. Versteh das doch.«
»Nein, ich verstehe das nicht. Du hast von mir verlangt, dass ich ihm javva gebe, obwohl er kein Manusch ist. Ich habe zugestimmt, weil ich dachte, ich könnte dir vertrauen und du würdest tun, was ich sage. Aber offensichtlich habe ich mich in dir getäuscht. Hattest du überhaupt je vor, dein Versprechen zu halten? Oder hast du mir ins Gesicht gelogen und dir gedacht: ›Dumme Tante Livia, sie merkt es sowieso nicht‹?«
»So denke ich nicht von dir. Wirklich nicht.«
»Und dann die Sache mit dem Brief«, fuhr Livia fort und zog das zerknitterte Stück Papier mit Vivanas Nachricht aus der Tasche. »Erst missbrauchst du mein Vertrauen, und dann hast du nicht einmal den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen. Ich bin enttäuscht von dir. Sehr enttäuscht.«
Vivana fühlte sich elend. »Ich wollte es dir ja sagen. Aber es war schon so spät. Ich musste weg, sonst hätte ich den Zeitpunkt verpasst, als sich das Tor öffnete.«
»Erspar mir deine Ausreden. Du hattest den ganzen Tag Zeit.« Livia zerriss den Brief und warf die Fetzen weg. »Ich frage mich, warum ich überhaupt hier bin. Ich hätte dich das alles allein ausbaden lassen sollen. Verdient hättest du es.«
Nedjo trat neben Vivana. »Hat das nicht bis später Zeit?«, meinte er unwirsch. »Wir sind in einer Burg voller Dämonen, schon vergessen? Wir sollten lieber zusehen, dass wir...«
Livia musste den jungen Manusch nur ansehen, damit er eingeschüchtert verstummte.
Vivana hob den Kopf. »Kann ich etwas tun, um es wiedergutzumachen?«, fragte sie leise.
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete die Wahrsagerin. »Zuerst musst du mir beweisen, dass ich dir wieder vertrauen kann.«
Vivana nickte. Sie hätte alles getan, damit ihre Tante ihr verzieh. Doch bevor sie etwas sagen konnte, mischte sich ihr Vater ein. »Jetzt sei nicht so streng mit ihr«, wandte er sich an Livia. »Sie hat doch nur versucht, das Richtige zu tun.«
Die Wahrsagerin tat, als bemerke sie ihn erst jetzt, und bedachte ihn mit einem eisigen Blick. »Halt dich da raus, Nestor. Das ist eine Sache unter Manusch und geht dich nichts an.«
»Und ob es mich etwas angeht. Vivana ist verdammt noch mal meine Tochter!«
Vivana wusste es zu schätzen, dass er sich für sie einsetzte. Doch damit machte er alles nur noch schlimmer. »Lass gut sein, Paps. Ich komme schon klar.« Dabei drückte sie seine Hand. Er verstand die Geste und schwieg, wenn auch widerwillig.
Sie wandte sich wieder ihrer Tante zu. »Was ich getan habe, war falsch. Ich werde dich nie wieder belügen und hintergehen. Du hast mein Wort.«
»Hoffen wir, dass es mehr wert ist als beim letzten Mal.« Livias Gesichtszüge wurden kaum merklich weicher. »Komm her, du dummes Kind.« Sie nahm Vivana in die Arme, drückte sie an sich und strich ihr über das Haar. »Was fällt dir ein, ins Pandæmonium hinabzusteigen? Bist du denn völlig verrückt geworden?«