Vivana war so erleichtert, dass sie ihr Gesicht in Livias Halsbeuge vergrub und anfing zu schluchzen.
»Können wir jetzt endlich von hier verschwinden?«, fragte Nedjo.
Livia küsste Vivana auf die Stirn. »Zuerst muss ich wissen, was passiert ist«, sagte sie. »Wo ist Liam? Wir haben gesehen, dass er bei euch war, als die Dämonen euch zur Burg brachten.«
»Ihr habt uns beobachtet?«, wollte Lucien wissen.
»Als wir euch eingeholt hatten, wart ihr bereits in der Gewalt der Dämonen«, antwortete Madalin. »Gegen so viele konnten wir nichts ausrichten, sonst hätten wir schon früher versucht, euch zu befreien. Wir haben die Burg beobachtet und auf einen geeigneten Moment gewartet, um einzudringen.«
»Das war nicht Liam, den ihr gesehen habt«, sagte Vivana und wischte ihre Tränen weg. »Ein Dämon steckt in seinem Körper. Er ist nicht mehr er selbst.«
Tante Livia nickte ernst, als hätte sie so etwas erwartet. »Was ist mit dem Gelben Buch von Yaro D’ar?«
»Die Dämonen haben es uns weggenommen.« In knappen Worten erzählte Vivana, wie sie Liam gefunden hatten und was seitdem geschehen war.
»Kannst du etwas für Liam tun?«, fragte Madalin die Wahrsagerin.
»Vielleicht. Aber nicht hier. Wir müssen ihn nach Bradost bringen.«
»Gut«, sagte Madalin. »Dann lasst uns den Jungen holen.« Mit Messern und Armbrüsten in den Händen huschten sie die Rampe hinauf. Oben in der Halle erwartete Vivana ein bizarrer Anblick: Auf dem Boden, im Schein der Feuer, die in den Schächten flackerten, lagen Dutzende von Dämonen und schliefen. Sie lagen kreuz und quer und teilweise übereinander oder eng umschlungen, als hätten sie bis zur Besinnungslosigkeit getanzt und wären dann zusammengebrochen. Geifer troff aus Mäulern und Schnauzen. Klauen und vielfingrige Hände umklammerten abgenagte Knochen und Trinkbecher, aus denen scharf riechende Flüssigkeit rann. Die Luft war zum Schneiden dick.
Vivana biss sich auf die Lippe, als sie ihren Blick durch die Halle schweifen ließ. Sie wollte gar nicht wissen, was für Szenen sich in den vergangenen Stunden hier abgespielt hatten...
»Sucht Liam«, sagte Tante Livia im Flüsterton. »Aber seid um Himmels willen leise.«
Sie schwärmten einzeln oder zu zweit aus und achteten darauf, keinen Dämon zu berühren oder Lärm zu machen, während sie den Saal absuchten. Vivana stieg über die liegenden Körper und hielt angestrengt nach einem blonden Haarschopf Ausschau. Sie atmete durch den Mund, denn der Gestank war überwältigend. Der Sud, an dem sich die Dämonen berauscht hatten, sah verdächtig wie Blut aus und roch faulig, süßlich und auf eine widerwärtige Weise betörend.
Sie sah, dass Lucien ihr ein Zeichen gab, und eilte zu ihm. Der Alb stand mit ihrem Vater in einer Nische der Halle. Sie hatten nicht Liam gefunden, wie Vivana enttäuscht feststellte, sondern ihre Ausrüstung – besser gesagt, das, was davon übrig war. Die Dämonen hatten ihr Gepäck aufgerissen, die Vorräte gefressen und alles zerstört, was keinen Wert für sie besaß. Das wenige, das nicht zerbrochen oder zerfetzt war, nahmen sie an sich. Lucien fand seinen Waffen- und Werkzeuggürtel und seine Karte. Die magische Kerze und das Brandeisen hatten Nachachs Blutsklaven zerstört.
Vivana fischte das Gelbe Buch aus dem Unrat. Zu ihrer Erleichterung war es unversehrt. Offenbar hatten sich die Dämonen nicht dafür interessiert und es achtlos in die Ecke geworfen.
»Gib das mir«, sagte Tante Livia leise.
»Nein«, widersprach Vivanas Vater. »Wir haben es gefunden. Wir behalten es.«
»Deine Tochter hat mir ihr Wort gegeben, dass sie das Buch zu mir bringt, sowie sie es gefunden hat.«
»Was damit geschieht, entscheiden wir, wenn wir zuhause sind.«
Die Manusch blickte Vivanas Vater böse an. »Du kannst es nicht lassen, was? Immer musst du uns zeigen, wie sehr du uns verachtest. Du hast dich kein bisschen verändert, Nestor. Kein Wunder, dass Vivana unglücklich ist.«
»Lass Vivana aus dem Spiel!«, fuhr er sie an.
Vivana konnte es nicht fassen. Sogar hier, inmitten einer schlafenden Dämonenhorde, mussten ihr Vater und Tante Livia miteinander streiten. »Hört auf damit«, ging sie dazwischen. »Wollt ihr die Dämonen aufwecken? Ich behalte das Buch.« Sie hob ihre Ledertasche auf, die zum Glück noch heil war, und schob den Folianten hinein.
»Darüber sprechen wir noch«, sagte Tante Livia und stolzierte davon.
Vivanas Vater blickte ihr mit gerunzelter Stirn nach, ehe er sich an Vivana wandte. »Stimmt das? Bist du wirklich unglücklich?«
Sie seufzte. »Nein. Jetzt lass uns weiter nach Liam suchen.«
In diesem Moment winkte Madalin sie zu sich. Das Oberhaupt der Manusch hatte Nachach gefunden, der grotesk zusammengerollt inmitten seiner bewusstlosen Gefolgsleute lag und schlief. Vivanas Herz machte einen Sprung. In der Armbeuge des Dämons hatte es sich Liam bequem gemacht. Aus seinem Mundwinkel rann rötlicher Speichel – offensichtlich hatte auch er von dem stinkenden Sud getrunken.
Lucien ging neben ihm in die Hocke. »Wir fesseln und knebeln ihn. Wenn er aufwacht, schlag ihn bewusstlos«, wies er Jovan an, der einen Knüppel hielt.
Madalin steckte Liam einen Knebel in den Mund und verknotete den Tuchfetzen behutsam am Hinterkopf. Vivana hielt den Atem an. Mit Liam wurden sie fertig, wenngleich ihr bei der Vorstellung übel wurde, dass die Manusch ihm möglicherweise Gewalt antun mussten. Aber was, wenn Nachach aufwachte? Selbst im Schlaf war die böse Macht, die er verströmte, so stark, dass sie die Härchen an ihren Armen elektrisierte. Wenn er zu sich kam, würde es keine Minute dauern, bis er sie alle mit seinen Klauenhänden zerfetzt hatte.
Lucien und Madalin entrollten ein Seil und schlangen es Liam um die Arme. Liams Atem stockte. Er schien zu spüren, dass ihm etwas im Mund steckte – und öffnete die Augen. Er war sofort hellwach und erfasste die Situation, gab ein boshaftes Schnauben von sich und schlug nach Madalin. Der Manusch packte seine Arme, woraufhin Liam begann, sich zu winden und hin und her zu werfen, wobei er gegen Nachach stieß.
»Schlag zu!«, befahl Lucien dem erschrockenen Jovan.
Der junge Manusch, der kaum älter war als Vivana, schluckte und holte aus. Vivana schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, lag Liam bewusstlos auf dem Boden.
Nachach regte sich nicht. Sie konnte förmlich hören, wie die gesamte Gruppe gleichzeitig aufatmete.
Lucien und Madalin beeilten sich, Liam zu fesseln. Vivana entdeckte Blut an der Stelle, wo Jovans Knüppel ihn getroffen hatte.
»Geht es ihm gut?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
»Keine Sorge«, erwiderte Madalin, »er schläft nur.« Der hochgewachsene Manusch warf sich Liam über die Schulter. »Lasst uns verschwinden.«
»Noch nicht«, sagte Vivana. »Zuerst muss ich Ruac finden.«
»Das ist zu gefährlich«, meinte Lucien. »Du weißt doch gar nicht, wo sie ihn hingebracht haben. Er kann überall sein.«
»Das ist mir egal. Ohne Ruac gehe ich nirgendwohin.« Vivana wandte sich an Madalin. »Bringt Liam nach draußen. Ich komme gleich nach.«
Die Manusch zögerten. »Dann geh wenigstens nicht allein«, sagte Tante Livia. »Nimm Sandor und Nedjo mit.«
»Ich komme auch mit«, sagte Vivanas Vater.
Die Wahrsagerin nickte. »Gut. Wir warten beim Tor auf euch.«
Sie, Lucien, Madalin und Jovan eilten zum Ausgang der Burg, während Vivana mit dem Rest der Gruppe zu dem Durchgang schlich, in dem die Dämonen mit Ruac verschwunden waren.
Der Weg war abschüssig und mündete in ein Gewirr aus Tunneln ähnlich dem Kerker, nur dass die Gänge hier breiter und höher waren. Scharfer Schwefelgestank lag in der Luft.
Vivana blickte sich um. Die Tunnel sahen alle mehr oder weniger gleich aus. Ihr sank der Mut. Wie sollte sie Ruac je in diesem Labyrinth finden?
In diesem Moment erklang von irgendwoher ein Brüllen und hallte durch die Gänge. »Das ist er!«, stieß Vivana hervor. »Er spürt, dass ich da bin.«