»Das war Ruac?« Nedjo erbleichte. »Klingt mir eher wie ein verdammtes Monster.«
»Ruac ist ein wenig gewachsen«, erklärte Vivana, während sie loslief.
»Gewachsen?«
»Lange Geschichte. Jetzt komm!«
Sie eilten in die Richtung, aus der das Brüllen kam. Der Schwefelgestank wurde immer stärker; Dampf sammelte sich unter der Decke und ließ die fleischigen Wände und Mauervorsprünge glitzern wie die Felsen einer Tropfsteinhöhle. Vivana und ihre Gefährten banden sich Tücher vor Mund und Nase.
Kurz darauf kamen sie in einen kuppelartigen Saal. Durch zwei Schächte in der Decke fiel das Glühen des Himmels herein. In der Mitte befand sich ein steinernes Becken, in dem Schwefel blubberte. Der Dampf brannte in den Augen und war so dicht, dass man kaum etwas sehen konnte.
Ein Schemen erhob sich aus dem Tümpel und kroch ans Ufer.
»Allmächtiger«, flüsterte Nedjo.
Mit einem Anflug von Furcht blieb Vivana stehen. Sie hatte erwartet, dass Ruac weitergewachsen sein würde – doch damit hatte sie nicht gerechnet. Er war nun fast so groß wie ein Pony. Das Bad im Schwefelbecken musste sein Wachstum immens beschleunigt haben. Offenbar hatte Nachach angestrebt, seine Verwandlung in einen Lindwurm zügig voranzutreiben.
Schwefelsud rann über Ruacs schwarz glänzende Haut. Die Schuppenreste rings um den Tümpel deuteten daraufhin, dass er sich mehrfach gehäutet hatte. Er verströmte eine solche Hitze, dass Vivana einen Schritt zurückweichen musste. Der Tatzelwurm züngelte, und ihr war, als sei er enttäuscht.
»Pass auf, du verbrennst mich«, erklärte sie ihm. »Außerdem bist du jetzt ein bisschen zu groß, um auf meinen Schultern zu sitzen. Das verstehst du doch, oder? Komm, wir bringen dich von hier weg.«
Es klirrte, als Ruac sich bewegte. Erst jetzt bemerkte Vivana die Kette, die von einem Eisenring um seinen Hals zu einer Steinsäule führte. Sie griff nach dem Stift, der den Ring zusammenhielt, und verbrannte sich dabei fast die Hand.
»Lass mich das machen«, sagte ihr Vater. Er wollte mit seiner mechanischen Hand nach dem Stift greifen, doch Ruac zuckte zurück und öffnete drohend sein Maul.
»Lass ihn«, sagte Vivana. »Er will dir nur helfen.«
Ruac schien sich etwas zu beruhigen. Sichtlich angespannt streckte ihr Vater abermals die Hand aus. Diesmal ließ der Tatzelwurm es zu, dass er den Stift herauszog und den Eisenring entfernte.
Vivana atmete auf. Ruac war inzwischen so groß, dass er einen erwachsenen Mann mühelos in zwei Teile beißen konnte. Sie konnte nur hoffen, dass sich seine Abneigung gegen ihren Vater legte. Andernfalls standen dem Erfinder gefährliche Zeiten bevor.
Als die Gefährten gerade den Saal verlassen wollten, trat eine Gestalt aus dem Dunst.
»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Seth und blieb im Ausgang des Saales stehen.
»Lass uns durch«, sagte Vivana. »Oder du bekommst es mit Ruac zu tun.«
»Ich weiß nicht, was hier läuft, aber ich schlage vor, ihr geht jetzt schön brav in eure Zelle zurück. Oder ich werde ärgerlich.« Der Incubus breitete die Arme aus, und aus seinen Handflächen wuchsen Flammen. Vivana spürte die Hitze, die von ihm ausging, und wusste, was gleich geschehen würde.
Plötzlich schien alles ganz langsam zu gehen. Vivana überlegte, Ruac zu befehlen, ihn anzugreifen, doch dieser Gedanke wurde von einer Woge des Zorns, die innerhalb eines Augenblicks über ihr zusammenschlug, weggespült.
Seth war dafür verantwortlich, was mit Liam geschehen war. Nur ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie sich an diesem entsetzlichen Ort befand und mehrmals nur knapp dem Tod entronnen war. Ohne Seth wäre sie jetzt zuhause, mit Liam, ihrem Vater und Ruac, und alles wäre noch so wie früher.
Wie von fremden Kräften gelenkt hob sie ihre Handarmbrust und drückte ab.
Wenn dich ein Dämon angreift, ziel immer auf den Kopf...
Der Bolzen bohrte sich in Seths Stirn. Der Halbdämon starrte sie an, mit einem Ausdruck der Fassungslosigkeit in den Augen. Er ließ die Arme sinken, und die Flammen erloschen. Dann kippte er ohne einen Laut um.
Es dauerte einen Moment, bis jemand wagte, sich zu rühren. Vorsichtig näherte sich Nedjo dem reglosen Incubus und stieß ihn mit dem Fuß an. »Er ist tot.« Er hob den Kopf, blickte Vivana an. »Du hast ihn erschossen.«
Der Zorn verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Vivana konnte sich nicht erklären, was sie gerade getan hatte – es war, als hätte ein Teil von ihr, den sie noch nicht kannte, die Kontrolle über ihren Körper übernommen. Ihre Hand begann zu zittern. Sie warf die Armbrust weg. »Gehen wir«, murmelte sie.
Die Gefährten machten einen weiten Bogen um Seth, als sie den Saal verließen. »Du hast einen verdammten Incubus erschossen«, keuchte Nedjo, während sie durch die Gänge hasteten. »Weißt du, wie schwer sie zu töten sind?«
Sie kamen zur großen Halle, wo sich nach wie vor keiner der Dämonen regte. Vivana hatte Sorge, dass Ruac die Schlafenden aufwecken würde, doch der Tatzelwurm überraschte sie ein weiteres Mal. Trotz seiner Größe kroch er geschmeidig wie eine Katze durch die Halle, ohne einen einzigen Dämon zu berühren.
Der Rest ihrer Gruppe erwartete sie am Ausgang der Burg. Das Haupttor war verschlossen, doch eine kleine Pforte unter dem Wehrgang stand offen. Die Manusch mussten sie von außen aufgebrochen haben, als sie in die Festung eingedrungen waren.
»Das ist Ruac?«, fragte Madalin entgeistert.
Vivana berichtete kurz, was geschehen war und dass sie Seth getroffen hatten.
»Sie hat ihn erschossen«, ergänzte Nedjo.
»Sie hat was?«, fragten Lucien und Tante Livia gleichzeitig.
»Seth ist tot. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen«, erwiderte Vivana. »Jetzt lasst uns endlich gehen.«
Die Manusch schulterten ihr Gepäck, das sie bei der Pforte zwischen den Felsen versteckt hatten. Madalin und Lucien trugen Liam, der immer noch ohnmächtig war. Ohne sich noch einmal nach der Festung umzuschauen, machten sie sich auf den Weg die windgepeitschten Serpentinen hinab.
Vivana fragte sich, wo die Verschlinger steckten, die ständig die Felsnadel umkreist hatten. Unterwegs fand sie die Antwort. Die schwarzen Dämonenvögel lagen tot auf dem Pfad, von Armbrustbolzen durchbohrt. Die Manusch waren von ihnen angegriffen worden, als sie zur Burg hinaufgestiegen waren, und hatten sie erschossen.
Sie erreichten den Sattel, der die Felsnadel mit dem Bergrücken verband, und gut eine Stunde später wanderten sie durch das Tal.
Sie hatten gerade den Rand des Kessels erreicht, als ein Schrei erklang, ein Laut voller Zorn und Hass, der aus der Festung drang und von den Winden in jeden Winkel des Tales getragen wurde.
Kurz darauf öffneten sich die Tore der Burg.
24
Die Flucht
Dämonen ergossen sich aus der Pforte der Festung, vierbeinige Krieger, Kynokephale und Kobolde auf schwarzen Riesenkäfern. Kreischend und ihre Waffen schwenkend marschierten die Kreaturen die Serpentinen hinab. Nachach ragte wie ein Rachegott zwischen ihnen auf, brüllte vor Zorn und schlug mit einer dreischwänzigen Peitsche auf seine Blutsklaven ein.
Obwohl es ein Furcht erregender Anblick war, verspürte Vivana in diesem Moment nichts als Wut. In den vergangenen Tagen hatte sie so oft Angst gehabt, dass ein paar Dämonen sie nicht mehr erschrecken konnten. Außerdem hatte sie es satt, sich immerzu zu fürchten.
Voller Unbehagen stellte sie fest, dass es ihr gefallen hatte, Seth zu töten. Es war ein gutes Gefühl gewesen, ihrem Zorn und ihren Rachegedanken freien Lauf zu lassen und einfach abzudrücken. Sie spürte, dass sie sich veränderte – in einer Weise, die ihr nicht unbedingt gefiel.