Vivana betrachtete das Pergament. Die Schrift darauf war frisch und ein wenig verschmiert. Offenbar hatte Tante Livia die Symbole hastig aus einem ihrer Bücher kopiert, bevor sie zum Tor aufgebrochen war. Die Zeichen kamen Vivana bekannt vor, denn sie ähnelten den Runen auf Luciens Brandeisen und der Stele mit den gespeicherten Erinnerungen. »Was bewirkt der Zauber?«
Die Manusch begann, die Zeichen wahllos auf Boden und Felswände zu schreiben. »Mach schon. Wir haben nicht ewig Zeit.«
Vivana zeichnete einige der Symbole auf die Erde. Anfangs gingen ihr die seltsamen Zeichen nicht leicht von der Hand, doch als sie sich die Runen eingeprägt hatte, wurde es einfacher. War das ein Zauber des Verlorenen Volkes? Die Ähnlichkeit der Symbole sprach dafür. Dank der Manusch, die das alte Wissen bewahrten, hatte er die Jahrtausende überstanden. Vivana bekam eine Gänsehaut. Plötzlich war ihr, als würde sie mit den Schöpfern des Pandæmoniums in Verbindung treten, während sie die Runen auf die Felsen übertrug.
»Der Zauber erschafft einen Funken des Lichts, aus dem die Grenzwälle des Pandæmoniums bestehen«, beantwortete Tante Livia ihre Frage. »Dämonen fürchten es, denn es kann sie töten.«
»Nur einen Funken?«
»Es ist unfassbar mächtig. Ein einziger Blitz davon genügt völlig, glaub mir.«
»Lucien hat gesagt, die Lichtmauern bestehen aus den guten Kräften der Menschheit«, sagte Vivana. »Aus Güte und Selbstlosigkeit und so weiter.«
»Das ist richtig. Leider ist die Menschheit weit weg. Deshalb musst du versuchen, jedes bisschen positiver Energie zu nutzen, das du hier finden kannst. Ich hoffe, das reicht aus«, fügte die Wahrsagerin düster hinzu.
»Wie mache ich das?«
»Konzentriere dich auf uns acht, wenn es so weit ist. Versuche, dich an alles zu erinnern, was wir jemals Gutes getan haben. Den Rest erledigen die Zaubersymbole.«
»Soll ich mich auch auf Lucien konzentrieren?«
»Ich weiß nicht, ob es bei ihm funktioniert. Versuch es einfach.«
Hastig schrieb Vivana Zeichen um Zeichen auf die Felsen. Inzwischen sahen der Boden und die Felswände aus, als hätte ein verrückter Maler in der Schlucht seiner Phantasie freien Lauf gelassen.
Ein zorniger Schrei erklang. Vivana hob den Kopf und sah Nachach einen Steinwurf von dem Geröllhaufen entfernt seine Peitsche schwingen. Kriegerdämonen und Kynokephale stürmten den Hang hinauf. Die Manusch und ihr Vater beschossen sie mit ihren Armbrüsten. Lucien schleuderte ein Wurfmesser und traf einen Dämon am Kopf.
Vivana schluckte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Nicht aufhören!«, befahl Tante Livia. »Das genügt noch nicht!«
Vivana schrieb, bis ihre Hand schmerzte. Bei dem Geschrei ihrer Gefährten und dem Krächzen und Zirpen der Dämonen war es nahezu unmöglich, sich auf die Zeichen zu konzentrieren. Sie konnte nicht anders, als immer wieder aufzublicken und den Kampf zu beobachten.
Ihre Gefährten verteidigten erbittert die Schlucht. Glücklicherweise ging Madalins Plan auf: Wegen der Engstelle konnten immer nur zwei oder drei Dämonen gleichzeitig angreifen, wodurch sich Nachachs Übermacht nicht auswirkte. Armbrustbolzen sirrten durch die Luft und streckten Angreifer um Angreifer nieder; mehr als ein Dutzend Dämonen lag bereits tot oder verletzt auf dem Pfad. Wenn es einer der Kreaturen trotzdem gelang, die Schlucht zu erreichen, streckten sie Nedjo und Jovan mit Säbel- und Keulenhieben nieder. Vivanas Vater packte einen spitzohrigen Wicht mit seiner mechanischen Hand und schleuderte ihn durch die Luft. Ruac schnappte nach einem Krieger und biss ihm den Arm ab. Wenigstens, dachte sie mit finsterer Genugtuung, muss ich mir jetzt nicht mehr überlegen, wie ich Futter für ihn auftreibe.
Doch es war abzusehen, dass ihre Gefährten nicht ewig durchhalten würden – dafür war die Zahl der Dämonen einfach zu groß. Sandor konnte schon nicht mehr mitkämpfen. Der Manusch kauerte bleich und verletzt auf dem Boden und biss die Zähne zusammen, während Madalin einen Umhang zerriss und eine böse Schnittwunde an seinem Arm verband.
Ich muss sie retten, dachte Vivana und schrieb umso hektischer.
»Das muss genügen.« Tante Livia stand auf. Überall bedeckten die bizarren Runen des Verlorenen Volkes die Erde und die Wände der Schlucht. »Stell dich dorthin und tu, was ich dir gesagt habe. Du musst spüren, wie sich die Macht des Lichts in dir sammelt. Wenn der richtige Moment gekommen ist, gib sie frei.«
Vivana wusste, dass es blanker Wahnsinn war, was sie da tat. Die Wahrsager der Manusch verbrachten Monate und Jahre damit, die alten Zauber und Rituale zu lernen. Und sie versuchte, die Magie innerhalb weniger Minuten zu meistern. Es konnte nur schiefgehen.
Tante Livia hatte ein Zeichen auf den Boden gemalt, das größer als die anderen Symbole war: eine Art Drudenfuß, ein Neuneck, das aus einem Gewirr von Linien und Kreisen bestand. Breitbeinig stellte sich Vivana darauf.
Das Kampfgeschrei war verstummt. Nachach hatte seine Blutsklaven zurückgerufen und um sich geschart. Offenbar hatte der Dämonenfürst begriffen, dass er mit seiner bisherigen Taktik nicht weiterkam. Seinem Gebrüll und seinen herrischen Gesten nach zu schließen, plante er, die Schlucht mit all seinen Dämonen zu stürmen, gleichgültig, wie viele Gefolgsleute er dadurch verlor.
Alle Augen waren auf Vivana gerichtet. In den Gesichtern der Manusch las sie Hoffnung und Sorge, in der Miene ihres Vaters blanke Angst. Nur Luciens Zuversicht war ungebrochen. Als er ihr zuzwinkerte, wusste sie, dass sie es schaffen würde.
Sie schloss die Augen. Stellte sich ihre Gefährten vor, ihre Stimmen, ihre Art zu lachen und Geschichten zu erzählen. Dachte daran, wie sich die Manusch selbst in Zeiten der Not umeinander kümmerten, ohne je einen Lohn dafür zu erwarten. Wie Onkel Madalin und seine Brüder im letzten Winter zwei Tage nichts gegessen hatten, damit seine Familie den Arzt bezahlen konnte, den seine Kinder so dringend benötigten. Oder wie Nedjo einmal grün und blau geschlagen worden war, weil er ein wildfremdes Mädchen vor zwei aufdringlichen Soldaten beschützt hatte.
Dutzende solcher Geschichten fielen Vivana ein, wenn sie an die Manusch dachte, Geschichten voller Mut und Liebe, denn jeder Einzelne von ihnen wäre jederzeit bereit gewesen, sich für das Wohlergehen der anderen in die größte Gefahr zu stürzen.
Wärme begann durch ihren Körper zu strömen, durch ihre Arme und Beine, ihr Blut und ihre Knochen, und sammelte sich in ihrer Brust. Die Schriftzeichen erwachten zum Leben – es fühlte sich an wie das Pochen eines gewaltigen Herzens in der Dunkelheit hinter ihren Augenlidern. Doch es war noch nicht genug.
Sie dachte an Lucien, der einst eine menschliche Frau geliebt hatte und ohne einen Moment des Zögerns mit ihr ins Pandæmonium hinabgestiegen war. Seine Schläue und seine Tapferkeit kannten keine Grenzen, und niemals ließ er sich entmutigen, mochten die Schwierigkeiten und Hindernisse auf ihrem Weg noch so groß sein.
Sie dachte an Tante Livia, die Liam das javva geschenkt hatte, obwohl sie damit ein uraltes Geheimnis der Manusch preisgab. Wie oft hatte die Wahrsagerin Vivana getröstet, wenn sie am Starrsinn ihres Vaters verzweifelt war und nicht wusste, wohin sie gehörte. Die Manusch opferte sich für ihre Familie auf, ohne etwas dafür zu erwarten, und fand trotzdem noch die Zeit, sich um die Kranken der anderen Manuschsippen zu kümmern und das alte Wissen ihres Volkes zu hüten.
Und schließlich dachte sie an ihren Vater. Die vergangenen Jahre waren nicht einfach gewesen. Beinahe täglich hatten sie miteinander gestritten, waren sich immer fremder geworden, bis sie schließlich geglaubt hatte, ihr Vater sei durch und durch verbittert und interessiere sich für nichts und niemanden, außer für seine Arbeit. Die letzten Tage hatten jedoch bewirkt, dass sie ihn mit anderen Augen sah. Sie wusste nun, dass der Grund für sein Verhalten Angst war – die Angst, sie zu verlieren, so wie er einst Vivanas Mutter verloren hatte. Trotz allem liebte er sie, und wenngleich er seine Liebe auf eine unbeholfene und manchmal verquere Art zeigte, gab es doch keinen Zweifel daran, dass sie ihm mehr bedeutete als sonst etwas auf der Welt. Und er hatte bewiesen, dass er gewaltigen Mut besaß: nicht weil er bereitwillig gegen Dämonen kämpfte, sondern weil er den Willen aufbrachte, sich zu ändern. Vivana wusste, wie schwer ihm das fiel.