Die Hitze erfüllte ihren Körper von Kopf bis Fuß, floss durch jede Faser ihres Leibes, durch ihre Finger, ihre Haut, ihre Organe. Vivana glaubte, bersten zu müssen.
Sie öffnete die Augen. Die Schriftzeichen glühten, als wären sie mit Feuer geschrieben, und erfüllten die Kluft mit weißem Glosen.
Die Dämonen begannen zu brüllen. Mit Nachach an der Spitze stürmten sie den Berghang hinauf, drängten sich zu einer Masse aus Leibern zusammen, trampelten einander tot und stürmten dennoch weiter, der Schlucht entgegen.
Lucien schien zu wissen, was nun kam. Er warf sich auf den Boden und vergrub seinen Kopf in den Armen.
Vivana gab die Hitze frei. Licht schoss aus ihren Fingerspitzen, aus ihren Augen, brach durch ihre Haut, schien sie von innen heraus zu verschlingen. Sie hörte Gebrüll, Schreie voller Panik und Entsetzen, roch verbranntes Fleisch – und dann war ihr, als würde sie fallen, immer weiter fallen, bis sie schließlich aufschlug und die Besinnung verlor.
Irgendwann kam sie wieder zu sich. Jemand ächzte. Sie blinzelte und sah Tante Livia, die auf dem Boden lag und sich bewegte. Von der Hitze war nichts mehr zu spüren. Sie betrachtete ihre Hand, die aussah wie immer. Keine Verbrennungen, keine Spuren dessen, was gerade geschehen war.
Mühsam stand sie auf. Die Schriftzeichen hatten sich ins Gestein eingebrannt und strahlten Wärme ab. Ihre Gefährten lagen hinter der Geröllbarriere, als hätte eine Sturmböe sie von den Füßen gerissen. Stöhnend rappelten sie sich auf. Auch Lucien wirkte reichlich benommen, obwohl er seine empfindlichen Augen rechtzeitig vor der strahlenden Helligkeit geschützt hatte. Lediglich Ruac hatte das Licht nichts anhaben können.
Vivana eilte zu ihrem Vater und half ihm auf die Füße. Er war verwirrt, aber unversehrt. »Bist du in Ordnung?«
Er brachte ein Nicken zu Stande und wandte sich dann zum Berghang um. Der Anblick, der sich ihnen dort bot, war grauenhaft. Dutzende von Dämonen lagen auf den Felsen, verbrannt und tot. Die wenigen Überlebenden, darunter Nachach, rannten den Hang hinab und hasteten in heilloser Flucht durch das Tal.
»Wir haben gesiegt!«, rief Madalin, und seine Brüder versammelten sich um ihn.
Tante Livia kam zu Vivana und lächelte. »Ich wusste, du würdest es schaffen.« Im nächsten Moment hatten die Manusch sie hochgehoben, warfen sie unter Freudenschreien in die Luft und fingen sie wieder auf. Vivana war immer noch so erschöpft, dass sie gar nicht wusste, wie ihr geschah.
Plötzlich fiel ihr Blick auf Liam. Er kauerte neben dem Felsen, wo sie ihn vor dem Kampf festgebunden hatten, und sein Kopf war auf die Brust gesunken. »Lasst mich runter«, bat sie die Manusch und lief zu ihm.
Sie nahm sein Gesicht in die Hände. Seine Augen waren geschlossen, seine Haut war bleich. Er regte sich nicht.
Voller Angst begriff sie, was sie angerichtet hatte. Das Licht – es wirkte auf den Dämon in seinem Innern ebenso zerstörerisch wie auf Nachach und seine Blutsklaven. Der Kampf und das magische Ritual hatten ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht, sodass sie nicht daran gedacht hatte, Liam davor zu schützen.
»Er lebt noch«, sagte Tante Livia, nachdem sie ihn untersucht hatte. »Er ist nur bewusstlos. Liams Körper hat den Dämon vermutlich vor dem Schlimmsten bewahrt.«
»Und wenn das Licht ihn aus Liam vertrieben hat?«, fragte Madalin.
»Liam und der Dämon sind zu einem Wesen verschmolzen. Das Licht hat entweder beiden geschadet – oder keinem.«
Vivana entfernte den Knebel, damit Liam atmen konnte, und lockerte seine Fesseln. »Kannst du etwas für ihn tun?«
»Warte«, sagte Tante Livia und ging zu Sandor, der ebenfalls dringend ihre Hilfe brauchte. Sie gab ihm einen Tropfen javva, woraufhin sich die Wunde an seinem Arm augenblicklich schloss.
Vivana tupfte Liam währenddessen mit einem kühlen Tuch die Stirn. Nachdem Livia sich davon überzeugt hatte, dass keiner der anderen ernstlich verwundet war, kam sie zurück und rührte einen Kräutertrunk an, den sie Liam vorsichtig einflößte. Er konnte schlucken, aber es gelang ihr nicht, ihn aufzuwecken. »Wir müssen ihn so schnell wie möglich nach Bradost bringen.«
Vivana wäre am liebsten sofort aufgebrochen, doch ihre Gefährten benötigten dringend eine Rast. Die Flucht und der Kampf hatten sie alle bis an die Grenzen ihrer Kräfte erschöpft. Schließlich spürte auch Vivana, dass sie ein paar Stunden Schlaf brauchte. Der Zauber hatte ihr mehr abverlangt, als ihr im ersten Moment klar gewesen war.
Sie trugen Liam den Pass hinauf und rasteten in einer Felsspalte. Vivana wollte neben ihm wachen, doch sie war so müde, dass sie nach wenigen Minuten einschlief.
Die nächsten Tage waren beschwerlich. Sie wanderten durch das Ödland, der fernen Lichtmauer entgegen und immer auf der Hut vor Dämonen. Wegen Liam, den sie abwechselnd tragen mussten, kamen sie nur sehr langsam voran. Außerdem mussten sie viele Pausen machen und verdammten Seelen aus dem Weg gehen, denn ohne Luciens magische Kerze konnten sie es nicht riskieren, den Geistwesen zu nahe zu kommen.
Liams Zustand schien sich zu bessern, doch er wachte nicht auf.
Wenigstens stritten Vivanas Vater und Tante Livia nicht mehr. Sie ignorierten einander, was zwar nicht schön war, aber immer noch besser als der ständige Zank. Manchmal erschien es Vivana, als betrachte ihr Vater die Wahrsagerin mit neuen Augen. Vielleicht hatte er dank des Lichtzaubers begriffen, dass die alten Künste der Manusch mehr waren als Hokuspokus und Budenzauber, wie er immer behauptet hatte.
Einmal rasteten sie in einer alten Ruine, die sich in einem Tal befand, unweit einer kleinen Wasserstelle. Vivana legte sich neben Liam, denn sie wollte es auf keinen Fall verpassen, sollte er aus seiner Ohnmacht aufwachen.
Rufe rissen sie aus dem Schlaf. Sie schreckte hoch und sah Madalin und Lucien umherrennen und Fackeln schwenken.
»Verdammte Seelen!«, schrie der Alb. »Lauft!«
Voller Grauen stellte sie fest, dass sich der Ruine von zwei Seiten Geister näherten, mindestens ein Dutzend. Madalin und Lucien versuchten, sie mit ihren Fackeln zu verjagen, doch die Untoten schienen das Feuer nicht einmal zu bemerken.
Im nächsten Moment herrschte Chaos. Die Schlafenden erwachten, und die eine Hälfte wusste nicht, was geschah, während die andere hektisch das Gepäck zusammenraffte. Nedjo schrie, als eine verdammte Seele ihn am Hals berührte. Vivana sprang auf, packte Liam unter den Armen und hob ihn hoch. »Jovan!«, rief sie. Mit schreckensbleichem Gesicht eilte der junge Manusch herbei und half ihr, Liam wegzutragen.
Plötzlich tauchte aus dem Zwielicht ein Geistwesen auf, ein Mann mit fremdländischen Zügen, die von Hass und Qual verzerrt waren. Er berührte Vivana an der Schulter, seine geisterhaften Finger drangen tief in ihr Fleisch ein, woraufhin Eiseskälte ihren Körper durchströmte. Sie keuchte vor Schmerz und hätte Liam beinahe fallen gelassen. Nur der Gedanke, dass er dann verloren gewesen wäre, ließ sie die Zähne zusammenbeißen.
Auch Jovan, ihr Vater und die Manusch wurden von verdammten Seelen angegriffen. Schmerzensschreie hallten durch das Tal. Die Untoten gaben sich jedoch damit zufrieden, ihre Opfer nur einmal zu berühren. Dann zogen sie sich zurück, als wäre ihre Gier befriedigt.
Die Gefährten flohen in die Hügel. Als sie feststellten, dass die Totenseelen keine Anstalten machten, ihnen zu folgen, ließen sie ihr Gepäck fallen und sanken erschöpft zu Boden. Vivana und Jovan legten Liam hin und lehnten sich schwer atmend gegen die Felsen. Die Schmerzen verschwanden allmählich, doch die unnatürliche Kälte saß Vivana tief in den Gliedern und ließ auch dann nicht nach, als sie sich in eine dicke Decke hüllte. Sie verspürte eine Leere in ihrem Innern, eine tief greifende Hoffnungslosigkeit. Das Geistwesen hatte ihr nicht nur die Körperwärme geraubt, sondern auch einen Teil ihrer Vitalität, ihres Lebenswillens. Es fühlte sich an, als klaffe in ihrer Seele ein Loch.