Ihren Gefährten erging es ähnlich. Niemand sprach; der Fackelschein lag auf maskenhaften Gesichtern. Bedrückt zog Vivana die Decke enger um die Schultern und starrte ins Nichts.
Lucien war der Erste, der sich von dem Angriff erholte. Er stieg auf die Hügelkuppe und blickte zur Lichtmauer, die inzwischen nah genug war, dass man sie trotz des Dunstes deutlich erkennen konnte.
»Kommt her«, sagte er nach einer Weile. »Das solltet ihr euch ansehen.«
Vivana ging zu ihm, gefolgt von den anderen. Sie sah auf den ersten Blick, was der Alb meinte: Der Grenzwall des Pandæmoniums hatte sich seit ihrer Ankunft vor gut einer Woche verändert. Das Licht strahlte nicht mehr weiß und blendend – es flackerte und wies hier und da dunkle Stellen auf.
»Was ist das?«, fragte ihr Vater.
»Sieht aus, als bekäme die Mauer Risse«, antwortete der Alb.
»Risse?« Tante Livia trat neben ihn. »Unmöglich. Die Mauern des Pandæmoniums bestehen seit Jahrtausenden. Nichts kann ihnen etwas anhaben.«
»Seht mal da«, sagte Nedjo und deutete auf einen Hügel anderthalb oder zwei Meilen entfernt. Der Dunst hatte sich gelichtet, und Vivana erblickte einige winzige Gestalten, die sich auf der Anhöhe aufhielten. Zweifellos Dämonen. Es sah ganz so aus, als untersuchten sie das Flackern der Lichtmauer.
»Den Dämonen ist es also auch schon aufgefallen«, bemerkte Lucien mit einem seltsamen Klang in der Stimme.
Eine erschreckende Vorstellung stieg in Vivana auf: Noch waren die Lichtmauern stabil genug. Aber wenn sich die Risse und Schwachstellen ausweiteten, konnten bald Dämonen hindurchschlüpfen und ins Diesseits eindringen – in ihre Welt.
Sie schob diesen Gedanken von sich. Nein. So ein Szenario war nicht nur unrealistisch, es war blanker Unsinn. Das Pandæmonium gab es seit Äonen. Warum sollten seine Mauern auf einmal zusammenbrechen? Dennoch blieb eine ungute Ahnung.
»Hat Seth die Risse gemeint, als er gesagt hat, die Zukunft gehört den Dämonen?«, wandte sie sich an Lucien.
»Wer weiß. Jedenfalls wird mir jetzt einiges klarer.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Vor ein paar Wochen hat Aziel Seth ins Pandæmonium geschickt, um Nachforschungen anzustellen«, erklärte der Alb. »Er wollte mir nicht sagen, warum. Vielleicht hat er geahnt, dass irgendetwas geschieht.«
»Was hat Seth herausgefunden?«
»Offenbar etwas, das ihn dazu gebracht hat, Aziel den Laufpass zu geben und sich Nachach anzuschließen.« Lucien betrachtete die Lichtmauer mit zusammengekniffenen Augen. »Wie es aussieht, muss ich mich mit Aziel unterhalten, wenn wir zuhause sind.«
»Aber ihr seid doch Feinde.«
»Ja, das dürfte die Sache interessant machen. Jetzt lass uns gehen. Es ist noch ein weiter Weg.«
Wenig später wanderten die Gefährten durch die Hügel. Glücklicherweise verlief der Marsch ereignislos. Die Dämonen auf der Anhöhe beachteten sie nicht, falls die Kreaturen sie überhaupt bemerkt hatten. Auch die verdammten Seelen ließen sie in Ruhe. Sie hatten ihren Hunger gestillt und sich in den Dunst zurückgezogen.
Schließlich erreichten sie das Tor. Vivana betrachtete den dunklen Wirbel in der Lichtmauer, und es kam ihr vor, als wäre seit ihrer Ankunft im Pandæmonium eine Ewigkeit vergangen, so viel war seitdem geschehen. Voller Unbehagen dachte sie an das Durchschreiten des Tors, an die endlosen Sekunden in der Dunkelheit und die Verzweiflung, die sie anschließend gepackt hatte. Lucien hatte sie vorgewarnt, dass der Rückweg genauso unangenehm werden würde.
Madalin und ihr Vater legten Liam behutsam auf den Boden. Vivana schob ihm eine zusammengerollte Decke unter den Kopf und gab ihm etwas zu trinken. Bald sind wir zuhause, dachte sie und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Wenn er nur endlich aufwachen würde...
»Können wir irgendwie herausfinden, wann sich das Tor das nächste Mal öffnet?«, fragte sie Lucien.
»Ich glaube nicht, dass wir lange warten müssen«, erwiderte der Alb. »Als wir nach unserer Ankunft hier gelagert haben, habe ich gesehen, dass es sich zweimal kurz hintereinander geöffnet und wieder geschlossen hat. Auf der Pandæmonium-Seite scheint es sich häufiger zu öffnen, dafür immer nur für ein paar Minuten. Vermutlich weil die Zeit hier anders verläuft...« Er unterbrach sich, als Tante Livia zu ihnen trat.
»Kann ich dich kurz sprechen?«
Lucien und die Wahrsagerin entfernten sich ein paar Schritte von der Gruppe. Livia war die einzige Manusch, die dem Alb unbefangen begegnete – die anderen empfanden nach wie vor extreme Ehrfurcht in seiner Gegenwart. Die beiden unterhielten sich leise und kehrten dann mit ernsten Gesichtern zur Gruppe zurück.
»Lucien und ich sind auf ein Problem gestoßen, das wir nicht bedacht haben«, begann Tante Livia. »Es betrifft das Tor. Ihr habt euch wahrscheinlich schon gefragt, wieso die Dämonen es nicht benutzen, um in unsere Welt einzudringen. Wir glauben, es liegt am Licht. Da, wo sich das Tor befindet, ist die Mauer zwar durchlässig, aber das Licht ist auch hier noch stark genug, dass es ihnen schadet, wenn sie damit in Berührung kommen.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Madalin.
Luciens Blick fand Liam – und Vivana begriff. Sie schloss für einen Moment die Augen. Nein. »Liam kann das Tor nicht durchqueren«, sagte sie leise. »Das meint ihr doch, nicht wahr? Solange der Dämon in ihm steckt, wird das Licht ihn töten.«
Tante Livia blickte sie voller Mitgefühl an. »Das ist nicht gesagt. Liam ist stark – vermutlich wird er es überstehen. Aber völlig ausschließen können wir es nicht. Dafür wissen wir zu wenig über das Tor.«
Vivana verspürte plötzlich den Drang, aufzustehen und herumzulaufen. Sie war durch das halbe Pandæmonium gewandert und hatte gegen Dämonen und verdammte Seelen gekämpft, nur um am Ende an einer haarsträubenden Verkettung der Umstände zu scheitern. Sie griff sich an die Stirn. Ihr Kopf schien zu glühen. Das kann einfach nicht sein...
Die Gefährten schwiegen betreten. Vivanas Vater murmelte einen Fluch.
»Kannst du den Dämon nicht gleich hier austreiben?«, fragte Madalin.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt kann«, erwiderte Livia. »Ich habe keine Erfahrung mit dem Ritual. Wenn ich es versuche, dann nur in Bradost. Auf keinen Fall hier.«
Alle Augen ruhten auf Vivana. Energisch wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen ab. »Das Licht ist also schwächer, ja? Wie schwach?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Lucien. »Vielleicht so wie die Blitze, die du mit dem Zauber beschworen hast.«
»Das nennst du schwach?«, meinte Vivanas Vater.
»Jedenfalls haben sie Liam nicht getötet.«
»Außerdem sickert ständig Böses durch das Tor«, sagte Tante Livia. »Das ist schlecht für uns, aber gut für den Dämon. Vielleicht hilft es ihm, halbwegs unbeschadet durchzukommen.«
»Seht mal.« Nedjo deutete auf das Tor. »Ich glaube, es öffnet sich.«
Der Wirbel in der Lichtmauer wurde größer und wölbte sich nach innen, wie die Fleischmembran in den Gewölben der Alten Arena.
»Beeilt euch«, forderte Lucien die Gefährten auf. »Es wird nicht lange offen bleiben.«