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Vivana kaute auf ihrer Unterlippe. Sie spielten mit Liams Leben Roulette, wenn sie mit ihm durch das Tor gingen. Er konnte sterben – oder auch nicht. Genauso gut hätten sie eine Münze werfen können. »Wartet«, sagte sie. »Lasst mich nachdenken. Es muss doch noch einen anderen Weg geben.«

»Ich fürchte, dafür haben wir keine Zeit.« Madalin machte sie auf den Hügel aufmerksam, wo sie die Dämonen gesehen hatten. In der Zwischenzeit hatten die Kreaturen das Interesse an der Lichtmauer verloren und kamen näher. Es waren mindestens zehn.

Vivanas Gedanken überschlugen sich. Wie konnte sie Liam vor dem Licht schützen? Ihr fiel nichts ein – sie wusste einfach zu wenig über das Licht und das Tor und Dämonen.

Ihre Gefährten warteten offenbar darauf, dass sie eine Entscheidung traf – als ob es irgendetwas zu entscheiden gäbe. Als ob es ihr Recht wäre, über Liams Leben zu bestimmen. »Wir gehen durch das Tor«, sagte sie und fügte leise hinzu: »Liam und ich gehen zuerst.«

Sie hängte sich ihre Tasche mit dem Gelben Buch um und hob Liam an den Schultern hoch. Wortlos kam ihr Vater ihr zu Hilfe und fasste nach seinen Beinen. Er nickte ihr zu, als wollte er sagen: Ich lasse dich nicht im Stich.

Gemeinsam trugen sie Liam zur Hügelkuppe. Trotz der vielen flackernden Stellen gleißte die Lichtmauer so hell, dass es in den Augen schmerzte. Vivana wandte dem Wall den Rücken zu und betrachtete Liams Gesicht. Bitte sei stark.

Die Dämonen hetzten in einer Staubwolke durch das Tal. Sie waren bereits so nah, dass Vivana ihr Kreischen im Wind hören konnte. Der Reihe nach blickte sie ihre Gefährten an: Lucien. Ruac. Nedjo. Sandor. Jovan. Madalin. Livia. Ihren Vater.

»Viel Glück«, sagte ihre Tante.

Vivana schloss die Augen und küsste Liam – dann trat sie rückwärts durch das Tor.

Der Weg durch die Dunkelheit war genauso schrecklich wie beim ersten Mal. Verzweifelt versuchte sie, Liam festzuhalten, während das Böse sie einhüllte, doch er entglitt ihr und verschwand in der Finsternis. Sie bekam keine Luft mehr und ruderte panisch mit den Armen, bis sie plötzlich von der Membran ausgespien wurde und unsanft auf dem Geröll landete.

Es war stockdunkel. Vivana fühlte sich ausgelaugt, entkräftet und so voller Verzweiflung, dass sie nicht einmal weinen konnte. Das Böse hatte jede Faser ihres Wesens, jeden Winkel ihrer Persönlichkeit durchdrungen.

Es dauerte mehrere Minuten, bis sie im Stande war, sich zu bewegen, sich aufzusetzen.

»Liam?«, rief sie in die Dunkelheit.

Keine Antwort.

Schließlich erklang die Stimme ihres Vaters: »Er ist hier... bei mir.«

Mit einem Anflug von Furcht dachte sie daran, was das Böse das letzte Mal mit ihm gemacht hatte. »Geht es dir gut?«

»Keine Angst. Alles in Ordnung.« Er klang kraftlos und müde und kein bisschen aggressiv. Vivana kroch zu ihm.

Die Membran schmatzte.

»Lucien?«, rief sie.

»Ja«, sagte der Alb. »Wartet. Ich mache Licht.«

Er zündete die Karbidlampe an, die sie aus Nachachs Burg gerettet hatten. Mit der Laterne in der Hand stieg er den Schutt hinab, um Platz für Ruac, Nedjo und Sandor zu machen, die in diesem Moment von der Membran ausgespuckt wurden.

Vivanas Vater kauerte neben dem Geröllhaufen und hatte Liams Kopf auf seinen Schoß gebettet. Sie ging neben ihm auf die Knie und nahm Liams Gesicht in ihre Hände. Es war eiskalt.

»Wir haben Glück«, murmelte der Erfinder und führte ihre Hand zu Liams Hals, presste sie sanft auf die Haut.

Sein Puls war so schwach, dass sie ihn kaum spürte. Doch sein Herz schlug, daran gab es keinen Zweifel.

TEIL II

Die Stadt der Seelen

25

Das Kristallmesser

Silas Torne saß an seinem Labortisch und inspizierte mit der Lupe einen grünlichen Gegenstand, der auf einem Tuch lag. »Ausgezeichnet«, murmelte er, »wirklich ausgezeichnet«, doch wegen der Zentrifuge, die in der Ecke brummte und vibrierte, war es kaum zu verstehen.

Als er aufstand, bemerkte er Umbra, die mit verschränkten Armen in der Tür stand. Blitzschnell ergriff er den Gegenstand und verbarg ihn hinter dem Rücken. »Wie lange bist du schon hier?«

»Was hast du da?«, fragte Umbra, während sie hereinkam.

»Das geht dich nichts an.«

Sie ließ ihren Schatten in die Länge wachsen, und bevor Torne begriff, wie ihm geschah, hatte sie sein Handgelenk gepackt und mit einem Ruck nach vorne gezogen. Torne schrie vor Schreck und ließ den Gegenstand fallen. Umbra fing ihn mit einem schattenhaften Arm auf und hob ihn hoch, sodass er vor ihr in der Luft zu schweben schien.

Es war ein Messer aus grünem Kristall.

»Gib es mir zurück«, verlangte der Alchymist. »Dazu hast du kein Recht!«

»Zuerst will ich wissen, was das ist.« Als Torne schwieg, fügte Umbra hinzu: »Es sieht zerbrechlich aus. Ich frage mich, was passiert, wenn es herunterfällt.« Um ihre Drohung zu veranschaulichen, ließ sie ihren Schattenarm zucken, sodass es für einen Sekundenbruchteil tatsächlich so aussah, als würde das Messer ihrem Griff entgleiten.

»Nicht!«, kreischte Torne. »Pass doch auf, verdammt!« Er wollte ihr die Kristallklinge wegnehmen, doch Umbras Schatten schnellte nach oben, und er kam nicht mehr heran.

»Es ist ein alchymistisches Werkzeug«, erklärte er mit finsterer Miene. »Eine Spezialanfertigung aus künstlichen Kristallen.«

»Seit wann braucht man ein Messer, um nach einem Doppelgänger zu suchen?«

»Ich brauche es für Lucien.«

»Das hast du also in den letzten Wochen getrieben. Seit du hier bist, hast du nichts anderes getan, als an diesem Messer zu arbeiten, richtig?« Umbra ließ ihren Schatten schrumpfen, und das Messer fiel klirrend zu Boden. Fluchend hob der Alchymist es auf, untersuchte, ob es beschädigt war, und ließ die Klinge in den Falten seiner Robe verschwinden. Anschließend ging er zur Zentrifuge und legte einen Hebel um, woraufhin das Gerät zur Ruhe kam.

»Wieso bist du überhaupt hier?«, knurrte er. »Ich hatte doch darum gebeten, nicht gestört zu werden.«

»Dreimal darfst du raten.«

»Du willst mir schon wieder Druck machen, was? Du bist zu früh dran. Die sechs Wochen sind noch nicht vorbei. Ich habe noch zwei Tage. Schau in den Kalender, wenn du mir nicht glaubst. Außerdem haben wir vereinbart, dass ihr den Doppelgänger erst bekommt, wenn ihr mir Lucien gebracht habt.«

»Das haben wir nicht vereinbart. Das hast du so entschieden.«

»Wie auch immer. Ohne Lucien kein Doppelgänger. Und da dieser jämmerliche Haufen, der sich Geheimpolizei nennt, nach wie vor keinen Schimmer hat, wo er sich verkrochen hat, sehe ich keine Veranlassung, mich zu beeilen.«

»Corvas’ Leute haben heute Morgen die Suche eingestellt«, sagte Umbra.

Torne starrte sie argwöhnisch an. »Muss ich das verstehen?«

»Lady Sarka hat entschieden, dass sie keinen Doppelgänger mehr braucht. Ich soll dir auszurichten, dass du entlassen bist.«

Zum ersten Mal erlebte Umbra den Alchymisten sprachlos. Dann blitzte Zorn in seinem gesunden Auge auf. »Ich nehme an, ihr Sinneswandel hat damit zu tun, dass sie neuerdings über die Traumlanden herrscht und sich jetzt für unbesiegbar hält. Du brauchst mich nicht so anzuglotzen – habt ihr erwartet, ihre Pfuscherei an den Träumen fällt niemandem auf? Aber wenn sie glaubt, sie wird mich so einfach los, irrt sie sich. Wir haben einen Vertrag. Einen V-e-r-t-r-a-g. Sie kann nicht davon zurücktreten, bloß weil sie gerade Lust darauf hat. Das ist rechtswidrig.«