Er blinzelte die Benommenheit weg. Vereinzelte Seelenhäuser standen in seiner Nähe, und alle sahen sehr fremdartig aus. Die Straße führte aus der Stadt hinaus und verschwand in einer Wand aus Dunkelheit.
Hier war er also.
Es war noch nicht lange her, da hatte er gedacht, die Stadt der Seelen sei unendlich groß – oder zumindest so gewaltig, dass man niemals ihre Ränder erreichen konnte, so sehr man sich auch anstrengte. Irgendwann hatte er jedoch herausgefunden, dass das nicht stimmte. Zwar war die Stadt wirklich sehr, sehr groß – immerhin bestand sie aus den Seelenhäusern aller Menschen –, doch wenn man sich Mühe gab, konnte man mit einem beherzten Sprung zu ihren Randbereichen gelangen. Jenseits der Stadt erstreckten sich seltsame Landschaften, Hügel und Ebenen, die in ewiger Dunkelheit lagen. Die Stadt war folglich nur ein Teil der Traumlanden. Was sich in der Dunkelheit befand, wusste Jackon nicht – und wollte es auch gar nicht wissen. Die Finsternis verdichtete sich nach wenigen Schritten, bis sie so undurchdringlich wurde wie die Schwärze des Alls. Wenn man sie betrachtete, vernahm man nach einer Weile flüsternde Stimmen. Irgendetwas sagte Jackon, dass es nicht gut war, ihren lockenden Rufen zuzuhören, und er hielt sich von der unheimlichen Dunkelheit jenseits der Stadtgrenzen nach Möglichkeit fern.
Lady Sarka saß auf einer Mauer neben der Straße, reglos wie eine Statue. Ihr Blick ruhte auf der Schwärze, als könne sie darin etwas sehen, das ihm verborgen blieb.
Während sie hier saß, lag ihr Körper in ihrem Gemach in Bradost und schlief. Es bereitete ihr viel weniger Mühe als Jackon, die Traumlanden zu betreten – wenn sie den Entschluss dazu gefasst hatte, legte sie sich einfach hin und schlief, ob sie müde war oder nicht. Ein weiteres Rätsel ihrer Macht.
In den vergangenen drei Wochen war sie kaum noch in der Wachwelt gewesen. Nur einmal am Tag stand sie für eine Stunde auf, um sich zu waschen und etwas zu essen. Die übrigen dreiundzwanzig Stunden lag sie wie tot auf ihrer Liege und versuchte, sich in den Traumlanden zurechtzufinden, wie besessen von dem Wunsch, endlich all das tun zu können, was auch Jackon tat. Umbra machte sich deswegen Sorgen um sie und hatte ihn gebeten, auf sie aufzupassen.
»Herrin«, sagte er respektvoll.
Sie gab mit keiner Regung zu verstehen, dass sie ihn bemerkt hatte.
Zögernd trat er neben sie. Die Macht der Traumlanden hatte ihre Schönheit noch vergrößert. Bisweilen war ihm, als wäre sie von einer leuchtenden Aura umgeben, einem engelsgleichen Licht, das mal golden und warm, mal schmerzhaft kalt wirkte.
Sie blickte ihn mit verschleierten Augen an und schien ihn nicht zu erkennen. Sie hatte sich wieder in der Unwirklichkeit der Träume verloren, weil es ihr nicht gelungen war, ihre Gedanken zu fokussieren. Das geschah ständig, wenn sie den Palast verließ.
»Ich bin’s, Jackon. Ihr müsst Euch konzentrieren. Ihr dürft nicht zulassen, dass Eure Gedanken abschweifen.«
Sie ergriff seine Hand und stand auf. Jackon zwang sie, ihn anzuschauen. Allmählich klärte sich ihr Blick.
»Wo bin ich?«
»Im Grenzland. Es ist alles in Ordnung«, fügte er hinzu, als sie die Wand aus Dunkelheit bemerkte. »Euch kann nichts geschehen.«
»Wie bin ich hierhergekommen?«
»Ein misslungener Sprung. Ihr müsst auf mich warten, bevor Ihr mit dem Üben anfangt.«
Sie ließ seine Hand los, ging einige Schritte auf die Dunkelheit zu und fuhr dann zu ihm herum. »Ich übe, wann es mir passt.«
»Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ihr seid noch nicht so weit, den Palast ohne meine Hilfe zu verlassen. Seht doch, was passiert ist. Ihr hattet Glück, dass Euch nichts zugestoßen ist. Ein paar Schritte weiter, und Ihr wärt mitten in die Dunkelheit gesprungen...«
»Unsinn. Ich hatte alles unter Kontrolle.«
Natürlich, dachte Jackon und schwieg resigniert.
»Ich bin die Herrscherin dieses Reichs«, fuhr sie mit Schärfe in der Stimme fort. »Ich beuge mich nicht seinen Gesetzen. Die Träume gehorchen mir, hörst du? Sie gehorchen mir!«
Diese Einstellung war der Grund, warum sie so langsam Fortschritte machte. Sie wollte einfach nicht verstehen, dass sie trotz ihrer Macht nicht tun und lassen konnte, was ihr gefiel. Leider brachte sie damit nicht nur sich in Gefahr, sondern ihr ganzes Reich. Mit ihren ungeschickten Versuchen, ihre Kräfte zu bändigen, vergrößerte sie das Durcheinander, das hier herrschte, noch. Immer wenn sie sprang, setzte sie versehentlich so viel Energie frei, dass Dutzende von Seelenhäusern beschädigt wurden. Als sie einmal versucht hatte, einen Schwarm Boten ihrem Willen zu unterwerfen, hatte sie die Geschöpfe einfach vernichtet – sie waren im Ansturm ihrer Macht verbrannt wie Mücken in einer Gasflamme.
Doch es hatte keinen Sinn, mit ihr darüber zu sprechen. Sie würde ihm nur wieder vorwerfen, übervorsichtig und kleingeistig zu sein.
»Wir sollten zum Palast zurückkehren«, sagte er.
Bevor sie auf die Idee kommen konnte, selbst zu springen, ergriff er ihre Hand. Einen Wimpernschlag später fanden sie sich im großen Saal wieder.
Als Jackon sich noch von den Nachwirkungen des Sprungs erholte, bemerkte er wieder die seltsamen Flammen, die Lady Sarka manchmal umgaben und über ihr Gewand züngelten, wenn sie sich bewegte. Sie waren nur einen Herzschlag lang zu sehen, ehe sie wieder verschwanden. Dennoch hätte er schwören können, dass er abermals Augen darin gesehen hatte. Ein Gesicht, das ihn voller Qual anblickte.
Wenn es sich bei den Flammen wirklich um die Nachwirkungen einer alchymistischen Substanz handelte, wie Lady Sarka ihm erklärt hatte, hätten sie längst verschwunden sein müssen, denn sie rührte den fraglichen Trank seit Wochen nicht an. Die Flammen tauchten jedoch immer wieder auf, nur nicht mehr ganz so oft wie am Anfang – so als wäre es ihr gelungen, sie die meiste Zeit zu unterdrücken.
Was versuchte sie, vor ihm zu verbergen?
In den vergangenen Wochen hatte Jackon sie heimlich beobachtet. Immer wenn die Flammen erschienen, war ihm, als könnte er für einen winzigen Augenblick gewaltige Schwingen aus goldenem Licht erkennen, die sich um ihren Körper schmiegten. Und das Gesicht, das er gerade wieder gesehen hatte, war nicht menschlich – es glich dem Antlitz eines Vogels.
Er hatte einmal gehört, dass es Alchymisten gab, die sich die Essenz von Schattenwesen einverleibten, um sich deren Kräfte anzueignen. Hatte Lady Sarka so etwas getan? War sie gewissermaßen mit der Seele eines anderen Geschöpfs verschmolzen ? Er hatte Stunden und Tage darüber nachgedacht. Und schließlich war in ihm ein Verdacht aufgekeimt, der ihn zutiefst verstörte.
»Was starrst du mich so an?«, wollte sie wissen.
»Die Flammen«, begann er zögernd. »Das sind keine Nachwirkungen von irgendetwas, nicht wahr? Sonst wären sie längst nicht mehr da.«
Sie gab keine Antwort, blickte ihn nur schweigend an.
»Was hat es damit auf sich?«
»Ich glaube, das weißt du längst.«
Ein schwer zu deutender Unterton lag in ihrer Stimme. Wollte sie ihn auf die Probe stellen? Jackon fasste sich ein Herz. »Es ist der Phönix, oder? Der Phönix von Bradost. Er ist nicht verschwunden, wie alle glauben. Er ist irgendwie... in Euch.«
»Na endlich. Ich habe mich schon gefragt, wann du dahinterkommst.«
Jackon schluckte. Er wünschte, er hätte sich geirrt. »Was habt Ihr mit ihm gemacht?«
»Ich habe ihn an mich gebunden. Er ist der Quell meiner Macht.«
»Ihn an Euch gebunden?«
»Mich mit ihm vereinigt. Ich zehre von seinen Kräften.«
»Der Phönix ist der Grund, warum Ihr nicht schlafen musstet? Und warum Ihr nicht sterben könnt?«
»Ich kann sterben, Jackon«, widersprach Lady Sarka ihm. »Weißt du noch, wie der Attentäter auf mich eingestochen hat? Du hattest Recht, als du sagtest, niemand könne solche Verletzungen überleben. Wenig später bin ich gestorben. Der Phönix gab mir jedoch die Kraft, meinen Leib zu verbrennen und im Feuer neu geboren zu werden.«