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»Angenommen, er ist es«, sagte Corvas, »dann hätte Quindal ihn in den Palast eingeschleust. Damit der Junge das Gelbe Buch suchen und fortsetzen kann, was sein Vater begonnen hat.«

»Dazu würde passen, dass Quindals Tochter in der Nacht von Aziels Angriff im Palast gewesen ist«, ergänzte Umbra. »Ich habe sie nach dem Angriff befragt. Sie hat gesagt, sie hätte ihren Großcousin Liam besucht, aber das kam mir wie eine Ausrede vor.«

»Hast du die Angelegenheit weiterverfolgt?«

»Wir hatten damals andere Sorgen, wenn du dich erinnerst.« Umbra begann, nachdenklich im Raum umherzugehen. »Könnte Liam mit Quindals Tochter das Buch gestohlen haben?«

»Unwahrscheinlich«, erwiderte der Bleiche. »Wie hätten sie an den Spiegelmännern im Kuppelsaal vorbeikommen sollen?«

»Trotzdem sieht es ganz danach aus. Ich frage mich, welche Rolle Quindal bei alldem gespielt hat. Ist er deinen Leuten schon einmal aufgefallen?«

»Nie. Er war immer ein treuer Anhänger der Herrin.«

»Ist er eigentlich inzwischen wieder in Bradost?«

»Ich glaube nicht.«

»Ein ganz schön langer Urlaub, oder?«

»Meines Wissens ist das sein erster Urlaub seit vielen Jahren.«

»Gehen wir mal alles der Reihe nach durch«, sagte Umbra mit gerunzelter Stirn. »Quindal schleust einen fremden Jungen in den Palast ein, indem er seine Beziehungen spielen lässt. Seine Tochter besucht Liam, obwohl die Spiegelmänner die strikte Anweisung haben, niemanden hineinzulassen. Das Gelbe Buch verschwindet. Wir erfahren, dass Liam möglicherweise Fellyn Satanders Sohn ist, der nach dem Buch gesucht hat. Und zufällig sind Quindal und seine Tochter seit ein paar Wochen nicht in der Stadt. Wenn du mich fragst, machen sie keinen Urlaub, sondern verstecken sich.«

Jackon hörte dem Gespräch mit wachsendem Entsetzen zu. Schlimm genug, dass Liam nicht der war, für den er ihn hielt. Doch nun sah es plötzlich so aus, als wäre er ein Dieb, ein Verschwörer. Sollte er sich so in seinem Freund getäuscht haben?

Die beiden Leibwächter schauten ihn unverwandt an.

»Was weißt du darüber?«, fragte Umbra.

»Nichts«, beteuerte Jackon. »Ich höre das alles zum ersten Mal.«

»Liam war dein Freund. Du hast jede freie Minute mit ihm verbracht. Dir muss doch aufgefallen sein, dass mit ihm etwas nicht stimmt.«

»Wieso? Er war ein ganz normaler Bediensteter. Außerdem hat er nicht gern über persönliche Sachen gesprochen.«

»Versuchst du ihn zu decken?«, bohrte Umbra nach.

»Warum sollte ich das machen?« Jackon schrie jetzt fast. »Er ist tot!«

Corvas und Umbra schwiegen eine Weile. Schließlich sagte der Bleiche: »Kehren wir zum Palast zurück. Die Herrin muss davon erfahren.«

Sie verließen die Sternwarte und versiegelten die Tür. Im Schatten hinter dem Gebäude, unbeobachtet von der argwöhnischen Menschenmenge, öffnete Umbra ein Tor. Sie und Corvas nahmen Jackon in die Mitte, als sie den Tunnel betraten. Er kam sich vor wie ein überführter Verbrecher.

Kurz darauf erreichten sie die Eingangshalle des Palasts und machten sich auf den Weg zum Kuppelsaal. Das Anwesen glich einem summenden Bienenstock. Sämtliche Bedienstete waren auf den Beinen und durchsuchten jedes Zimmer, jeden Schrank, jeden Winkel nach dem Buch.

Sie fanden Lady Sarka im Kuppelsaal, wo sie gerade Cedric anherrschte. Bleich und sichtlich um Haltung bemüht schlich der Hausdiener davon.

»Endlich«, sagte die Lady, als Jackon, Umbra und Corvas hereinkamen. »Dieser Narr kann das Buch nirgendwo finden. Ich hoffe, eure Suche war ergiebiger.«

»Vielleicht«, erwiderte Umbra. »Jackon scheint etwas Interessantes herausgefunden zu haben.«

Stockend begann Jackon zu berichten. Er war so durcheinander, dass er kaum einen klaren Satz zu Stande brachte, bis Lady Sarka schließlich die Geduld verlor und ihn heftig anfuhr. Er riss sich zusammen und erklärte in knappen Worten, was er in der Sternwarte festgestellt hatte. Umbra ergänzte die Vermutungen, die Corvas und sie daraus abgeleitet hatten.

Lady Sarkas Miene war so unbewegt wie eine Maske.

»Quindal ein Verräter?«, sagte sie nach einer Weile. »Nein, das glaube ich nicht. Der Mann war immer loyal. Außerdem lebt er für seine Arbeit. Er würde sie niemals leichtfertig aufs Spiel setzen.«

»Noch wissen wir zu wenig«, räumte Umbra ein. »Aber nach dem jetzigen Kenntnisstand können wir nicht ausschließen, dass Quindal etwas mit dem Verschwinden des Buchs zu tun hat.«

»Schon wieder eine Verschwörung?«, fragte Lady Sarka gedehnt.

»So lange das Buch verschwunden bleibt, sollten wir davon ausgehen, dass jemand es gestohlen hat, um den Quell Eurer Macht offenzulegen.«

»Angenommen, ihr habt Recht und Quindal steckt dahinter – warum hat er nicht längst etwas unternommen? Immerhin hat er das Buch seit ein paar Wochen.«

»Vielleicht hat er Schwierigkeiten, es zu entziffern«, sagte Umbra. »Wenn ich mich richtig erinnere, ist es in einer Sprache geschrieben, die in Bradost nur eine Hand voll Leute beherrschen.«

Um den Quell Eurer Macht offenzulegen... Jackon versuchte, sich vorzustellen, welche Auswirkungen dies haben würde. Die Menschen liebten den Phönix. Jedes Jahr am Phönixtag beteten sie für seine Rückkehr. Wenn sie herausfanden, dass Lady Sarka hinter seinem Verschwinden steckte und ihn gewissermaßen versklavt hatte... Die Folgen wären nicht auszudenken.

Und hinter alldem steckte Liam. Liam, dem er immer vertraut hatte, um den er bis zum heutigen Tag trauerte.

Es konnte sich nur um ein Missverständnis handeln, um einen schrecklichen Irrtum. Für all das musste es eine andere Erklärung geben.

»Am wichtigsten ist jetzt, dass wir das Buch finden, bevor man es gegen Euch verwendet«, fuhr Umbra fort. »Wenn unsere Annahmen zutreffen, gibt es zwei Möglichkeiten, was damit passiert ist. Erstens, Quindal und seine Tochter haben es mitgenommen. Zweitens, es ist mit Liam verbrannt.«

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, erwiderte Lady Sarka. »Das Buch ist bei dem Jungen.«

»Aber Liam ist tot.«

»Nein. Er lebt. Andernfalls wäre sein Seelenhaus längst verschwunden. Wenn ich Jackon richtig verstanden habe, war es heute Nacht noch da.«

Es dauerte eine Weile, bis die Worte von Lady Sarka zu Jackon durchsickerten. Liam... lebte? Aber das war nicht möglich. Seth hatte ihn umgebracht. Alle, die dabei gewesen waren, hatten das bestätigt.

»Corvas und Amander haben gesehen, wie der Incubus ihn verbrannt hat«, beharrte Umbra. »Das kann er unmöglich überlebt haben.«

»Ich weiß nicht, was ihr gesehen habt«, sagte die Lady. »Der Kuppelsaal war voller Ghule. Überall Geschrei und Chaos. Vielleicht konnte der Junge fliehen, bevor das Feuer ihn erwischt hat. Jedenfalls ist er am Leben. Sein Seelenhaus beweist das.«

Alles um Jackon herum begann sich zu drehen. Die Präsenz, die er Nacht für Nacht in Liams Seelenhaus spürte, das Gefühl, sein Freund sei in der Nähe und höre ihm zu – all das hatte er sich nicht eingebildet.

Liam lebte.

Tief in seinem Innern hatte er es immer gewusst. Er war nur nicht bereit gewesen, es zu glauben, denn er hätte die Ungewissheit nicht ertragen.

Er wandte den Blick ab, damit die anderen nicht sahen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.

»Aber sein Seelenhaus ist leer«, sagte Umbra. »Wenn der Junge nicht tot ist, wieso träumt er nicht mehr?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Lady Sarka gereizt. »Vielleicht hat er herausbekommen, über welche Kräfte Jackon verfügt, und nimmt ein Medikament, das seine Träume unterdrückt, aus Angst, sich zu verraten. Solche Mittel kann man bei jedem besseren Trankmischer bekommen. Was ist mit den Seelenhäusern von Quindal und seiner Tochter?«, wandte sie sich an Jackon. »Sind sie ebenfalls leer?«