Er blinzelte. »Ich weiß nicht. Ich war noch nie dort.« »Bring mich hin. Ich will mir ihre Träume anschauen. Vielleicht verschaffen sie uns etwas Klarheit.«
»Jetzt?«
»Nein, erst nächstes Jahr. Natürlich jetzt, du Narr! Komm zum Tor des Schlosses. Ich erwarte dich dort.«
Im nächsten Moment eilte Jackon durch die Flure und Säle des Anwesens. In seinem Zimmer setzte er sich aufs Bett und starrte an die Wand. Draußen wurde es allmählich dunkel, doch an Schlaf war nicht zu denken, so aufgekratzt wie er war. Er nahm etwas von seinem Vorrat an Bittergras, den er in seinem Nachttisch aufbewahrte, brühte sich am Kamin einen starken Tee auf und legte sich hin.
Diesmal dauerte es lange, bis die Kräuter ihre Wirkung entfalteten. Doch schließlich wurden ihm die Lider schwer, und er schlief ein.
Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass seine Träume von Liam handelten und von dem Wiedersehen mit seinem tot geglaubten Freund. Er widerstand der Versuchung, sich darin zu verlieren, verscheuchte sie und stieß die Tür seines Seelenhauses auf. Mit einem Sprung gelangte er zum Albenpalast.
Lady Sarka stand im Tor des Schlosses. Der Wind riss an ihren Gewändern und peitschte ihr Haar mal hierhin, mal dorthin. Der Ausdruck ihres blassen Gesichts war so herrisch und kalt wie schon lange nicht mehr.
»Wohin wollt Ihr zuerst?«
»Zu Quindals Seelenhaus.«
Jackon nahm ihre Hand und konzentrierte sich. Quindals Seelenhaus zu finden würde nicht leicht werden. Er war dem Wissenschaftler noch nie begegnet und musste sich an das Wenige halten, das er über den berühmten Erfinder wusste. Glücklicherweise hatte er im Magistratsgebäude einmal ein Porträt von Quindal gesehen, sodass er sich wenigstens dessen Gesicht vorstellen konnte.
Dank der Erfahrung, die er inzwischen besaß, glückte der Sprung, und sie landeten vor Quindals Seelenhaus. Jackon wusste sofort, dass sie hier richtig waren, denn das Gebäude glich Quindals Werkstatt im Kessel.
Lady Sarkas Finger gruben sich schmerzhaft fest in seinen Arm. »Wo bin ich?«
»Bei Quindals Seelenhaus. So, wie es Euer Wunsch gewesen ist.«
Sie ließ ihn los und schritt davon.
Es gelang ihr schon wieder nicht, ihre Gedanken zu fokussieren, und der Sprung musste sie zusätzlich verwirrt haben. Jackon lief ihr nach. »Wartet! Ihr müsst Euch konzentrieren.«
»Wer bist du?«, fuhr sie ihn an.
»Jackon.« Er hielt sie fest. »Jackon, der Traumwanderer. Seht mich an. Erkennt Ihr mich?«
»Jackon«, murmelte sie. Der Schleier vor ihren Augen verschwand, und sie schien wieder zu wissen, warum sie hergekommen war. »Suchen wir den Eingang«, sagte sie, nachdem sie Quindals Seelenhaus eingehend betrachtet hatte.
Bei dem Gebäude handelte es sich um eine flache, verwinkelte Halle mit Ziegelsteinmauern und einem Bleidach. Es war weitgehend unbeschädigt. Vor der Tür, einem doppelflügligen Portal, trieben sich einige Boten herum. Jackon scheuchte die schwammartigen Wesen weg, und sie traten ein.
Durchgänge verbanden die verschiedenen Gebäudeteile. An den Wänden verliefen Kupferrohre, und rostige Stahlträger stützten die Decke. Im Zwielicht, das die Halle ausfüllte, erahnte Jackon riesige Zahnräder, die zu bizarren Apparaturen gehörten.
Von Träumen keine Spur.
Jackon und Lady Sarka gingen von Raum zu Raum. Bei jedem Schritt blieb unverbrauchte Traumsubstanz an ihren Stiefelsohlen kleben und zog Fäden.
»Leer«, stellte Lady Sarka fest. »Schon seit Wochen.«
Jackon war der gleichen Ansicht. In der Halle herrschte dieselbe Stimmung wie in Liams Sternwarte: Sie war nicht einfach nur leer, wie das Seelenhaus einer Person, die gerade nicht träumte – sie war verlassen. Die Stille darin wirkte so erdrückend, als hätte sie sich hartnäckig im Mauerwerk festgesetzt.
»Was bedeutet das?«, fragte er.
»Bring uns zum Seelenhaus seiner Tochter«, erwiderte Lady Sarka.
Dieser Sprung fiel Jackon ein wenig leichter, schließlich hatte er Vivana schon einmal gesehen und mit ihr geredet.
Das Gebäude, vor dem sie aufkamen, war eines der ungewöhnlichsten, das er je erblickt hatte. Es war recht groß für das Seelenhaus einer Sechzehnjährigen und wies alle Merkmale der klassischen Bauweise von Bradost auf: granitgraue Mauern, hohe Spitzbogenfenster, ein Schieferdach und mehrere Kamine. Einige Elemente jedoch wirkten exotisch, obwohl sie sich harmonisch in das Gesamtbild einfügten. Ein Teil des Seelenhauses bestand vollständig aus Holz und war genau wie die Tür und die Fensterläden farbenfroh bemalt. Eine Plane aus Segeltuch überspannte den Eingang, wodurch der Anbau an einen Wanderzirkus erinnerte.
Jackon und Lady Sarka sahen sich darin um und fanden ihre Vermutung bestätigt: Vivanas Seelenhaus war so leer und verlassen wie Liams und das ihres Vaters.
»Was versucht ihr vor mir zu verbergen?«, fragte Lady Sarka in die Stille hinein.
»Vielleicht versuchen sie das gar nicht«, sagte Jackon. »Vielleicht sind sie krank und träumen deswegen nicht mehr. Oder sie sind...«
»Krank? Alle drei gleichzeitig? Ich bitte dich.«
»Was wollt Ihr jetzt tun?«
»Sie finden, was denn sonst? Wahrscheinlich haben sie Bradost gar nicht verlassen, wie Quindal uns glauben machen will, sondern verstecken sich irgendwo. Aber Corvas wird sie schon aufspüren. Er findet jeden.«
Sie begann zu verblassen, als sie aufwachte und die Traumlanden verließ.
»Nicht! Wartet!«, rief Jackon, doch da war sie bereits verschwunden.
Leise fluchend begann er, durch das Seelenhaus zu wandern. Eine Katastrophe bahnte sich an, wenn er nichts unternahm. Er beschloss, zur Wachwelt zurückzukehren, denn dort fiel ihm das Nachdenken leichter. Wenig später wachte er in seinem Bett auf. Er musste mehrere Stunden in den Traumlanden gewesen sein, denn inzwischen herrschte tiefe Nacht. Ohne eine Lampe anzuzünden, schlüpfte er in seinen Morgenrock und setzte sich in den Lehnsessel.
Vielleicht konnte er Schlimmeres verhindern, wenn er mit Liam redete und ihn dazu brachte, seine Pläne aufzugeben und das Buch zurückzubringen – falls dieser es überhaupt gestohlen hatte. Doch wie sollte er das anstellen? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo Liam sich aufhielt. Und solange sein Freund nicht träumte, hatte er keine Möglichkeit, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
Bedrückt starrte er aus dem Fenster und betrachtete den Nachthimmel und das Lichtermeer Bradosts.
Ein ohrenbetäubendes Kreischen erklang, als Tausende von Krähen ihre Nester im Dachgebälk verließen und den Palast wie ein Mahlstrom aus Schwingen und Schnäbeln umkreisten, bevor sie sich in die Lüfte erhoben und auf ihrem Weg in die Stadt mit der Masse ihrer Leiber die Sterne auslöschten.
28
Alte Freunde und ein Ritual
Luciens Laterne ließ schwankende Schatten über die Mauern des Gewölberaums tanzen, während Madalin und Vivanas Vater aus den Stangen und der Plane von Vivanas Zelt, das die Gefährten vor dem Tor zurückgelassen hatten, eine Trage bauten. Behutsam legten sie Liam, der immer noch ohne Bewusstsein war, darauf.
Vivana deckte ihn zu, blieb neben ihm sitzen und tupfte ihm die Stirn. Er schwitzte, obwohl er von Kopf bis Fuß eiskalt war. Du hast es fast geschafft, dachte sie. Wir sind wieder in Bradost. Zuhause.
»Er kann von Glück sagen, dass es die Risse in der Mauer gab«, sagte Tante Livia, als sie sich neben sie setzte.
»Du meinst, das hat Liam gerettet?«
»Sie schwächen das Licht. Es hat ihm zumindest nicht geschadet.«
Vivana betrachtete Liams wächsernes Gesicht. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie ihn der unverminderten Kraft des Lichts ausgesetzt hätten. Leider hatte auch der Dämon den Übergang überstanden – sie konnte seine Gegenwart spüren, seine Boshaftigkeit, die Liam wie eine Gestankwolke umgab. Vermutlich war er stark geschwächt, aber das änderte nichts daran, dass er nach wie vor mit Liam verschmolzen war und seinen Körper beherrschte. Und seine Gedanken, seine Worte.