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Ich liebe dich nicht und werde es niemals tun...

Energisch schob Vivana die Erinnerung daran weg. Der Dämon war so gut wie besiegt. Seine Lügen besaßen keine Macht mehr über sie.

Lucien trat zu ihnen. »Den anderen geht es allmählich besser. Wir sollten aufbrechen, bevor uns das Böse hier drin noch mehr zusetzt.«

Sie blickte in die Runde. Allen ihren menschlichen Gefährten, besonders aber Madalins Brüdern, hatte der Weg durch das Tor zu schaffen gemacht – das Böse, das hindurchsickerte, hatte ihnen jegliche Zuversicht genommen und ihnen die Kräfte geraubt. Doch inzwischen hatten sie sich einigermaßen davon erholt. Niemand schien bleibende Schäden erlitten zu haben, und Nedjo machte sogar schon wieder Scherze.

»Bringen wir Liam zum Wanderzirkus«, sagte Tante Livia. »Dort werde ich sehen, was ich für ihn tun kann.«

»Sollten wir nicht einen Priester um Hilfe bitten?«, mischte sich Vivanas Vater ein. »Oder einen Arzt?«

Der Blick, mit dem die Wahrsagerin ihn bedachte, war nicht gerade freundlich. »Eure Priester sind machtlos gegen Dämonen. Von euren Ärzten ganz zu schweigen. Wir nehmen den Jungen mit zu uns, ob es dir passt oder nicht.«

Vivana seufzte innerlich. Bitte keinen Streit – nicht ausgerechnet jetzt. »Tante Livia hat Recht, Paps. Wenn ihm jemand helfen kann, dann sie. Außerdem magst du keine Priester. Und Ärzte magst du auch nicht.«

Tiefe Falten zerfurchten seine Stirn. Sie rechnete mit einer Schimpftirade über »Hokuspokus« und »Manuschunfug« und war umso überraschter, dass er lediglich ein Schnauben von sich gab.

»Wie ihr wollt«, knurrte er und griff nach den Holmen der Trage. »Hauptsache, wir verschwinden endlich von hier.«

Vivana konnte ihr Erstaunen nicht verhehlen. Sollte er seine Vorurteile den Manusch gegenüber tatsächlich revidiert haben? Das wäre zu schön, um wahr zu sein.

Sie machten sich auf den Weg durch die Dunkelheit und stiegen die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe, die sie zurücklegten, spürte Vivana, wie das Böse, das in diesen Gewölben lauerte, schwächer wurde. Es kam ihr vor, als erwache sie aus einem endlosen Albtraum. Sie war dem Einfluss des Bösen so lange ausgesetzt gewesen, dass sie schon gar nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte, nicht ständig davon umgeben zu sein.

Als sie nicht mehr weit von den unterirdischen Spelunken und Opiumhöhlen in den Kellern der Alten Arena entfernt waren, blieb Lucien vor einem Durchgang stehen. »Das ist der Raum, den ich meine«, sagte er zu Vivana. »Hier kann Ruac ein paar Tage bleiben, bis wir wissen, was wir mit ihm machen.«

Sie hatten sich darauf geeinigt, den Tatzelwurm vorerst in der Alten Arena zurückzulassen. Er war inzwischen ein halber Lindwurm und würde in der Stadt zu viel Aufsehen erregen – und Aufsehen war das Letzte, was sie jetzt brauchten. So gut Vivana Luciens Argumente nachvollziehen konnte, war ihr doch nicht wohl dabei, Ruac hierzulassen. Seit sie ihn gefunden hatte, war er noch nie längere Zeit von ihr getrennt gewesen. »Du meinst wirklich, das ist nötig?«

»Wir haben doch darüber gesprochen«, erwiderte der Alb. »Wir holen ihn nach, sowie sich die Gelegenheit ergibt.«

»Und wenn ihm etwas zustößt? Wenn jemand ihn findet und ihm etwas antut?«

»Derjenige tut mir jetzt schon leid. Du machst dir zu viele Sorgen. Er kann auf sich aufpassen.«

Vivana gab sich geschlagen. »Komm«, sagte sie zu Ruac und führte ihn in den Raum. Die Gewölbekammer war groß genug, dass er ausreichend Platz darin hatte, selbst wenn er noch weiterwuchs. Von ihren Gefährten sammelte sie die restlichen Vorräte ein und ließ sie da, damit Ruac für die nächsten Tage genug zu fressen hatte. Zum Abschied drückte sie ihn. »Mach’s gut«, murmelte sie. »Ich komme dich holen, sobald ich kann. Und stell nichts an, hörst du?«

Der Tatzelwurm züngelte, und für einen Augenblick war ihr, als blitze in seinen Augen echte, menschliche Intelligenz auf. Mit einem unguten Gefühl verließ sie die Kammer.

Kurz darauf erreichten sie das Ende der Treppe und zwängten sich durch die Öffnung im Mauerwerk. In den Katakomben der Alten Arena hielt sich kaum jemand auf. Es schien früh am Morgen zu sein. Der Geruch von schalem Ale und kaltem Rauch lag in der Luft. In den Nischen und Tavernen dösten einige Betrunkene und Nachtschwärmer, die keine Notiz von ihnen nahmen. Lucien zog es dennoch vor, sich unauffällig zu machen.

Kühle Morgenluft schlug ihnen entgegen. Ein feiner Nebel füllte die Gassen, der jedoch nicht dicht genug war, um das Licht der Laternen zu trüben. Ein Bierkutscher lud vor einer Schänke Fässer ab; sonst war niemand auf den Beinen.

Vivana bemerkte, dass sich in den Rinnsteinen fauliges Laub angesammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was dieses Detail bedeutete, aber dann traf sie die Erkenntnis mit erschreckender Klarheit: In Bradost herrschte Herbst. Als sie mit ihrem Vater und Lucien zum Tor aufgebrochen war, war noch Hochsommer gewesen.

»Seht euch das an«, sagte sie aufgeregt und scharrte mit dem Fuß im Laub. »Ist euch klar, was das heißt? Wir sind ein paar Wochen im Pandæmonium gewesen. Oder sogar Monate.«

»Aber das kann doch nicht sein«, erwiderte Nedjo. »Es waren acht oder neun Tage. Höchstens.«

»Für uns schon. Aber im Pandæmonium verläuft die Zeit anders als hier. Nicht wahr, Lucien? Das hast du doch gesagt.«

»Ich fürchte, Vivana hat Recht«, erklang Luciens Stimme aus dem Nichts. »Ich wusste nur nicht, ob sie dort schneller oder langsamer vergeht.«

Ihre Gefährten schwiegen bestürzt. Vivana wollte sich Gewissheit verschaffen und lief zu dem Bierkutscher. »Was für ein Tag ist heute?«, erkundigte sie sich.

»Na, Samstag natürlich«, knurrte der Mann.

»Ich meine, welches Datum.«

»Sechzehnter Oktober.«

Drei Monate, dachte sie und schluckte. Wir waren drei Monate fort. Lieber Himmel... Sie dankte dem Kutscher. Als sie gerade gehen wollte, kam ihr plötzlich ein unschöner Gedanke.

»Äh, welches Jahr?«, fragte sie.

Der Bierkutscher blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an, als sei sie nicht ganz richtig im Kopf. »Meinst du das ernst?«

»Ich muss es wissen. Bitte.«

»Immer noch das Jahr des Mantikors. Ob du’s glaubst oder nicht.«

Sie atmete auf. Wenigstens das stimmte noch.

Sie lief zu ihren Gefährten zurück und erzählte ihnen, was sie erfahren hatte.

Ihr Vater und Madalins Brüder fluchten. Madalin und Livia waren bleich vor Schreck. »O Gott, die Kinder!«, stieß die Wahrsagerin schließlich hervor und eilte los.

Vivana hatte Tamas, Arpad und Dijana völlig vergessen. Ihr Wiedersehen mit den Manusch hatte unter solch dramatischen Umständen stattgefunden, dass sie sich kein einziges Mal gefragt hatte, wer sich eigentlich um die drei kümmerte, während Madalin und Livia im Pandæmonium waren.

Sie lief ihrer Tante nach. »Wo sind sie?«

»Wir haben sie zu Bajo und seinen Leuten gebracht, bevor wir aufgebrochen sind.« Bajo war das Oberhaupt einer anderen Manuschfamilie. Vivana kannte ihn flüchtig. »Wir haben ihnen gesagt, dass wir höchstens ein paar Tage fort sein würden. Sie müssen denken, wir sind tot.«

Die Gefährten eilten durch die Gassen des Labyrinths, so schnell sie mit der Trage konnten. Auf dem Platz der Erztugenden erwartete sie die nächste böse Überraschung.

Der Wanderzirkus war nicht mehr da.

Die Reisewagen, die Tiere, sämtliche Besitztümer von Madalins Familie waren spurlos verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Madalin war den Tränen nah.