»Aber das ist doch nicht möglich!«, fuhr Vivanas Vater auf. »Sie ist ein Mensch wie wir, kein Alb.«
»Sie ist keine gewöhnliche Frau«, warf Nedjo ein. »Sie hat seltsame Kräfte. Nehmen wir nur das Attentat vor ein paar Wochen. Ich habe gehört, dass man sie niedergestochen hat, aber schon eine Stunde später war sie wieder wohlauf. Wer weiß, wozu sie noch fähig ist.«
»Das sind nur Gerüchte, Nedjo«, sagte Madalin mit einem Anflug von Ärger. »Solche Dinge hört man ständig. Das bedeutet gar nichts.«
»Es heißt, dass jemand der Lady geholfen hat«, fuhr Bajo fort. »Ihr neuer Leibwächter, den sie seit ein paar Wochen überall herumzeigt. Er ist noch jung, aber er besitzt große Macht. Er soll Aziel verjagt und Lady Sarka zur Herrscherin über die Träume gemacht haben.«
»Jackon«, hauchte Liam, bleich vor Entsetzen. Vivana wurde klar, wie unfassbar sich all dies für ihn anhören musste. Er hatte erst in der Nacht des Ghulangriffs erfahren, dass Jackon mehr war als ein Diener. Über die absonderlichen Kräfte seines Freundes wusste er so gut wie nichts.
»Wir kennen den Jungen«, erklärte Lucien, als alle Liam anblickten.
»Was Bajo gerade erzählt hat – hast du davon gewusst?«, fragte Tante Livia den Alb.
»Woher denn? Aber es überrascht mich nicht sonderlich. Aziel und ich vermuten schon seit einer Weile, dass Lady Sarka Jackon benutzen will.«
»Wenn ihr von der Gefahr wusstet, warum habt ihr nichts unternommen?«, fragte Bajo.
»Lange Geschichte«, antwortete Lucien.
Einer von Bajos Brüdern rief: »Wenn die Alben uns nicht verlassen hätten, wäre es nie so weit gekommen.« Viele der Anwesenden nickten düster.
Ihre Ehrfurcht vor Lucien war zu groß, als dass Bajos Leute es gewagt hätten, den Alb anzugreifen oder zu beschimpfen. Die Stimmung, die plötzlich im Raum herrschte, war jedoch eindeutig. Die Schattenwesen gehörten zum Leben der Manusch wie das Wetter oder der Wechsel der Jahreszeiten. Eine Welt ohne Alben war für sie nicht vorstellbar. Sie fühlten sich von ihnen im Stich gelassen.
»Mein Volk ist gegangen, weil es keinen Platz mehr in eurer Welt hat«, entgegnete Lucien ruhig. »Die Zeit der Schattenwesen ist vorbei. Die Magie schwindet, weil ihr Menschen das so wollt, und Lady Sarka nutzt dies aus. Also gebt nicht den Alben die Schuld.«
»Die Manusch haben die Schattenwesen immer respektiert«, rief ein anderer Verwandter von Bajo.
»Mag sein. Aber ihr seid nur wenige. Die meisten Menschen haben uns längst vergessen.«
Lucien sagte diese Dinge ohne Bitterkeit, was seine Worte umso wirkungsvoller machte. Bajos Leute schwiegen beschämt.
In die Stille sagte Vivana: »Ich verstehe nicht, warum die Lady nichts gegen dieses Durcheinander unternimmt. Ich meine, sie ist jetzt die Herrin der Träume. Es ist doch ihre Aufgabe, auf die Träume aufzupassen, oder?«
»Wenn nicht einmal Aziel damit fertiggeworden ist, wie soll es einer Sterblichen gelingen?«, erwiderte Lucien. »Niemand kann die Träume ohne die Alben beherrschen. Lady Sarka überschätzt ihre Macht.«
»Das heißt, ihre Kräfte sind nutzlos?«, fragte Madalin. »Sie kann uns nicht damit schaden?«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber das ist nebensächlich. Sie wird den Verfall der Träume nicht aufhalten können. Das ist die eigentliche Gefahr.«
Vivana griff nach Liams Hand. Angesichts der Bedrohung, die Lucien schilderte, kamen ihr ihre Erlebnisse im Pandæmonium und die Gefahren, die sie gemeistert hatte, unbedeutend und klein vor. Mit ihrer Furcht war sie nicht allein. Aus den Gesichtern der Manusch sprach nackte Angst.
»Sollen wir ihnen von den Rissen erzählen?«, flüsterte sie ihrer Tante zu.
Die Wahrsagerin nickte. »Leider gibt es noch mehr Besorgnis erregende Neuigkeiten«, wandte sie sich an die Anwesenden. »Auf dem Rückweg zum Tor haben wir in den Grenzmauern des Pandæmoniums Risse gesehen. Sie müssen sich gerade erst gebildet haben, denn bei unserer Ankunft waren sie noch nicht da.«
»Was meinst du mit Rissen?«, fragte Bajo.
»Bruchstellen. Es sieht so aus, als würden die Mauern durchlässig werden. Die Dämonen haben sie auch schon bemerkt. Offenbar hoffen sie auf eine Gelegenheit, ins Diesseits einzudringen.«
»Könnten sie das schaffen?«
»Schwer zu sagen. Vielleicht handelt es sich dabei um ein vorübergehendes Phänomen, und die Risse bilden sich mit der Zeit wieder zurück.«
»Und wenn nicht?«
»Zuerst müssen wir mehr darüber wissen. Lucien will uns dabei helfen.«
Bajos Leute begannen, aufgeregt durcheinanderzureden. Die Möglichkeit, Dämonen könnten aus dem Pandæmonium ausbrechen, hatte sie zutiefst erschreckt, mehr noch als die Gefahr, die von Lady Sarka ausging.
»Willst du immer noch mit Aziel sprechen?«, fragte Vivana Lucien, als niemand auf sie achtete.
»Ja. Und es ist wohl am besten, ich gehe gleich. Hier scheint alles gesagt zu sein.«
»Sei vorsichtig, ja?«
Er lächelte zum Abschied und verschwand.
Vivana vermisste ihn schon jetzt. Lucien und sie waren während ihrer Wanderung durch das Pandæmonium gute Freunde geworden, und sie hoffte inständig, dass er sich nicht in Gefahr begab, wenn er Aziel aufsuchte.
Liam blickte die leere Stelle an, wo der Alb eben noch gewesen war. Er wirkte verwirrt und verstört von den beunruhigenden Entwicklungen der vergangenen Wochen und den vielen schlechten Neuigkeiten. Er hatte sich noch lange nicht von den Auswirkungen der Besessenheit erholt, auch wenn er das Gegenteil behauptete.
»Willst du dich hinlegen?«, fragte sie besorgt.
»Nein, es geht schon.« Er lächelte schief. »Es ist nur alles ein bisschen viel auf einmal.«
Währenddessen war es Tante Livia gelungen, die Manusch zu beruhigen. Bajo war der Erste, der Luciens Fehlen bemerkte.
»Wo ist der Alb?«
»Er ist gegangen«, erklärte Livia. »Es gibt wichtige Dinge, um die er sich kümmern muss.«
»Was ist mit uns?«, fragte Madalin. »Was können wir tun?«
»Ich könnte mit Jackon reden«, schlug Liam vor. »Er ist mein Freund. Vielleicht kann ich ihn davon abbringen, für Lady Sarka zu arbeiten.«
»Zu gefährlich«, sagte Vivanas Vater. »Was, wenn er dich an die Lady verrät?«
»Das würde Jackon nicht tun.«
»Bist du sicher? Wie gut kennst du ihn denn?«
Darauf wusste Liam nichts zu sagen. »Trotzdem wäre es einen Versuch wert«, meinte er schließlich. »Immerhin war er es, der Lady Sarka zur Herrin über die Träume gemacht hat. Vielleicht kann er es wieder rückgängig machen.«
»Die Idee ist nicht dumm«, erwiderte Tante Livia. »Vorher sollten wir aber herausfinden, was es mit dem Gelben Buch auf sich hat.«
Liams Augen weiteten sich, als die Wahrsagerin das Buch vor den Manusch erwähnte. Seine Suche danach war stets sein Geheimnis gewesen.
»Keine Sorge«, raunte Vivana ihm zu. »Bajos Leute sind unsere Freunde. Du kannst ihnen vertrauen.«
Liams Argwohn verschwand nicht gänzlich. »Vivana und ich haben das Buch gefunden«, sagte er zu Livia. »Wir entscheiden, was damit geschieht.«
»Natürlich«, stimmte die Wahrsagerin zu. »Aber du hast mir etwas versprochen. Ich möchte das Buch studieren, sowie wir es entziffert haben.«
Liam nickte. »Das habe ich nicht vergessen.«
Vivana wandte sich an ihren Vater. »Hast du nicht gesagt, du würdest jemanden kennen, der die Sprachen des Südens spricht?«
»Ein alter Freund«, bestätigte der Erfinder. »Sein Name ist Vorod Khoroj. Mit etwas Glück ist er gerade in Bradost. Wenn ihr einverstanden seid, bringen wir das Buch morgen zu ihm.«
»Können wir ihm trauen?«, fragte Liam.
»Ich kenne Vorod seit vielen Jahren. Er ist verschwiegen und zuverlässig.«
»Gut. Dann lasst uns gleich zu ihm gehen.«