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»Nein«, sagte Tante Livia. »Morgen ist früh genug. Du brauchst Ruhe. Mindestens eine Nacht.«

»Warum sagen alle, dass ich mich ausruhen muss?«, erwiderte Liam gereizt. »Mir geht es gut.« Um es zu beweisen, stand er auf – allerdings eine Spur zu ruckartig. Er wurde blass und musste sich am Tisch festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vivana legte den Arm um ihn und zog ihn zurück auf die Bank.

»Tante Livia hat recht«, sagte sie. »Es reicht, wenn wir morgen zu Vaters Freund gehen.«

»Außerdem brauchen wir alle ein wenig Ruhe«, meinte die Wahrsagerin. »Seit wir zurück sind, hatten wir noch keine Gelegenheit, uns von den Strapazen zu erholen. Und richtig geschlafen haben wir in den letzten Tagen auch nicht.«

»Ihr werdet euch noch nach den Nächten im Pandæmonium zurücksehnen«, murmelte Bajo düster.

Zwei Stunden später saß Vivana in einem Ledersessel am Kamin und wärmte sich an den Flammen, die knisternd an den Holzscheiten leckten. Sie war unter eine Decke geschlüpft, hatte die Knie an den Oberkörper gezogen und wackelte mit den Zehen.

Sie brauchte dringend neue Strümpfe. Ihren alten sah man jeden Schritt an, den sie im Pandæmonium gegangen war.

Es wurde allmählich Abend. Regen klatschte gegen die Fensterscheiben und durchnässte die städtischen Lampenanzünder, die der undankbaren Aufgabe nachgingen, in den Gassen des Labyrinths für ein wenig Licht zu sorgen. Vivana war allein im Saal. Um der beklemmenden Stimmung entgegenzuwirken hatte Bajo seinen Leuten befohlen, ihrem Tagwerk nachzugehen. Liam hatte schließlich auf Tante Livia gehört und sich wieder hingelegt. Kurz darauf war er erschöpft eingeschlafen.

Auch Vivana war todmüde, doch ihr war noch nicht danach, schlafen zu gehen. Es gab zu viele Dinge, über die sie nachdenken musste.

Liam... Ihn zu sehen, bei ihm zu sein, zu wissen, dass er wieder er selbst war, erfüllte sie mit einer stillen Freude, trotz all der beängstigenden Dinge, die geschahen. Die Zukunft mochte weitere Gefahren für sie bereithalten, vielleicht sogar noch schlimmere als jene, die sie bereits überstanden hatte, doch sie wusste, solange Liam bei ihr wäre, würde sie niemals verzweifeln.

Sie schloss die Augen und dachte an sein Gesicht, sein Lächeln, den Duft seines Haars. Ich liebe dich, hatte er gesagt. Ich liebe dich.

Sie hörte Schritte näher kommen. Es war ihr Vater.

»Störe ich dich?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er setzte sich und legte seine mechanische Hand auf die Sessellehne. Er hatte etwas auf dem Herzen. Es schien ihm peinlich zu sein. »Es geht um deine Tante«, begann er. »Meinst du, ich sollte mit ihr reden?«

»Worüber denn?«

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass Livia und ich ein paar Dinge klarstellen. Reinen Tisch machen. Das eine oder andere aus der Welt schaffen.«

Vivana war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Sie streifte die Decke ab und setzte sich richtig hin. »Du willst dich mit ihr aussprechen?«, fragte sie ungläubig.

»Ja.«

»Du meinst, so, wie es ein vernünftiger Mensch tun würde?«

»Mach dich nicht lustig«, schnarrte er. »Du weißt, wie schwer mir das fällt.«

Vivana grinste. »Schon gut, Paps. War doch nur ein Witz.«

Er gab ein Schnauben von sich. »Also, was meinst du? Ist das eine gute Idee?«

»Eine sehr gute sogar.«

»Und du denkst, sie hört mir zu?«

»Das liegt an dir, schätze ich. Wenn du wieder anfängst, auf die Manusch zu schimpfen – eher nicht.«

»Dein Vater ist vielleicht ein alter Sturkopf, aber kein Narr. Genau darum geht es doch. Livia soll wissen, dass ich gewisse Dinge inzwischen anders sehe.«

»Die Manusch und ihr altes Wissen.«

»Zum Beispiel.«

»Du hast dich ziemlich verändert, Paps.«

»Ich hoffe doch zum Besseren.«

»Wie man’s nimmt.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Herrgott, was soll ich eigentlich noch alles anstellen, damit du endlich zufrieden bist?«

Sie lächelte. »Du lernst es nie, oder?«

»Schon wieder ein Witz?«, fragte er argwöhnisch.

»Du hast es erfasst.«

Mit zerfurchter Stirn und zusammengekniffenen Lippen erhob er sich. »Ich gehe dann mal.«

»Paps?«

Er wandte sich zu ihr um.

»Du schaffst das schon.«

Nachdem er gegangen war, schlüpfte Vivana wieder unter die Decke und betrachtete das Feuer. Sah zu, wie die Flammen aufloderten und zusammenfielen, immer neue Formen und seltsame Landschaften bildeten und mit ihrer Glut das Holz aufzehrten. Manchmal war ihr, als könne sie Bilder darin sehen, flüchtige Erinnerungen und geisterhafte Phantasmagorien, die aufflackerten und wieder verschwanden. Ich sollte Angst haben, dachte sie, während ihr die Lider immer schwerer wurden. Warum habe ich keine?

Sie schlief ein und träumte, sie stünde mit Liam auf dem Phönixturm, hoch über den Dächern der Stadt und ganz nah am Himmel.

Staunend betrachtete Jackon sein Seelenhaus.

Es war schon wieder gewachsen. Während in der Nachbarschaft alles verfiel, wurde es größer und größer. Aus dem schlichten Häuschen war ein ansehnliches Anwesen mit Erkern und drei Stockwerken geworden. Wenn es so weiterging, überragte es bald alle Gebäude in der Straße.

Bei allem Stolz war Jackon auch ein wenig unbehaglich zu Mute. Vermutlich hatte Lady Sarka recht und das Seelenhaus spiegelte nur sein gewachsenes Selbstvertrauen wider. Doch ganz natürlich erschien ihm dieser Vorgang nicht. Seelenhäuser sollten nicht so schnell wachsen.

Aber immer noch besser, als wenn es verfiel, wie der Rest der Stadt. Seufzend wandte er sich ab und machte sich bereit zum Sprung.

Lady Sarka hatte ihm befohlen, Nacht für Nacht die Seelenhäuser von Liam, Nestor Quindal und Vivana zu beobachten und ihr zu melden, falls einer der drei wieder anfing zu träumen. Nicht gerade ein spannender Auftrag. Es war Wochen, wenn nicht Monate her, dass sie das letzte Mal geträumt hatten, und Jackon ging nicht davon aus, dass sich das so bald ändern würde. Aber Befehl war Befehl.

Er landete vor der Sternwarte und stapfte lustlos zum Eingang. Gerade als er die Tür öffnen wollte, sah er ein Flackern im Fenster.

Jackon traute seinen Augen nicht. Bilder formten sich wie Blasen aus der Traumsubstanz und füllten die Zimmer und Flure, die so lange leer gewesen waren. Mit einem Freudenschrei auf den Lippen riss er die Tür auf. Nun gab es endgültig keinen Zweifel mehr, dass Liam lebte.

Dunkelheit umfing ihn, als er die Sternwarte betrat. Gestalten huschten durch die Finsternis und flüsterten in den Schatten titanischer Ruinen. Riesige Schwingen schlugen, Mäuler voller Zähne blitzten auf. Es waren unheilvolle Träume, die Liam heimsuchten, Albträume aus den Abgründen seiner Erinnerungen. Was hatte er Schreckliches erlebt, dass ihn solche Bilder quälten?

Jackon machte sich auf die Suche nach seinem Freund, blieb jedoch nach ein paar Schritten stehen. Ihm bot sich die Gelegenheit, die er herbeigesehnt hatte, die Chance, mit Liam zu sprechen, bevor Corvas und seine Krähen ihn fanden. Aber damit würde er Lady Sarka hintergehen. Wollte er das wirklich tun?

Es hatte sich herausgestellt, dass er weniger über Liam wusste, als er glaubte. Besser, er beobachtete eine Weile seine Träume, bevor er sich ihm zeigte. Fand heraus, wer Liam wirklich war, ehe er mit ihm sprach. Lady Sarka brauchte vorerst nichts von seiner Entdeckung zu wissen. Er musste nicht befürchten, dass sie ihm auf die Schliche kam – ohne seine Hilfe fand sie die Sternwarte nie.

Jackon stahl sich davon, huschte durch die nachtschwarzen Ruinen. Schlüpfte durch die Tür und schloss sie leise. Durch ein Fenster beobachtete er, wie Liam durch seine Träume irrte, allein, verloren und verzweifelt.