Auf all diese Fragen fand er keine Antwort, denn er war viel zu müde, um konzentriert nachzudenken. Als er gerade am Einschlafen war, trübte etwas den Lichtschein der Lampe. In einer Zimmerecke ballten sich die Schatten zu einem schwarzen Kern zusammen, aus dem Umbra und Lady Sarka traten. Bei ihnen war eine dritte Person, ein unauffälliger Mann mittleren Alters, der eine Ledertasche trug. Das Schattentor schloss sich, während die Lady und der Mann näher kamen. Umbra wartete in der Ecke.
»Jackon.« Lady Sarka lächelte ihn an. »Wellcott hat mir mitgeteilt, dass du endlich aufgewacht bist. Wie geht es dir?«
»Herrin«, ächzte er und wollte sich schon aufsetzen – mit dem Ergebnis, dass ihn abermals bohrender Schmerz durchzuckte.
»Nicht bewegen«, sagte der fremde Mann. »Die Wunde könnte sonst aufplatzen.« Er setzte sich auf einen Schemel, öffnete seine Tasche und holte eine Spritze und Verbandsmaterial heraus.
»Doktor Addock, mein Leibarzt«, stellte Lady Sarka ihn vor. »Er wird sich um dich kümmern, bis es dir besser geht.«
»Du hattest verteufeltes Glück, mein Junge«, meinte der Doktor. »Ein paar Zentimeter weiter unten und die Dolchklinge hätte dein Herz durchbohrt. Wenn sich die Wunde nicht entzündet, solltest du in ein paar Wochen wieder auf den Beinen sein. Am schlimmsten sind jetzt die Schmerzen. Ich gebe dir Morphium, damit du schlafen kannst... Halt still, ich muss den Verband erneuern.«
Jackon biss die Zähne zusammen, als der Doktor die Kompresse von der Wunde entfernte. Getrocknetes Blut klebte daran.
»Was ist mit Aziel geschehen?«, fragte er, während Doktor Addock seine Arbeit tat.
»Hab keine Angst«, erwiderte Lady Sarka. »Er ist fort. Und die Ghule auch. Die Spiegelmänner haben sie vertrieben.«
»Ist er tot?«
»Nein. Aber sehr geschwächt. Er kann dir vorerst nichts tun.«
»Vorerst?«, wiederholte Jackon alarmiert.
»Nun ja, du bist ein Traumwanderer. Aziel fürchtet dich mehr als sonst etwas auf der Welt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er noch einmal versuchen wird, dich zu töten.«
Das war nicht gerade die Antwort, die er sich erhofft hatte. Beunruhigt kaute er auf seiner Lippe.
»Aber mach dir deswegen keine Sorgen«, fuhr Lady Sarka fort. »In diesem Zimmer kann dir nichts geschehen. Sieh zu, dass du gesund wirst. Das ist jetzt am wichtigsten.« Sie griff in ihre Robe und holte einen Anhänger hervor. »Leg das an. Nur zur Sicherheit.«
Es war das Drudenfußamulett. Jackon erinnerte sich, dass der Silberanhänger sowohl Lucien als auch Aziel daran gehindert hatte, ihn zu berühren. Mit Doktor Addocks Hilfe streifte er die Kette über den Kopf, aber besser fühlte er sich dadurch nicht, im Gegenteil. Wenn Lady Sarka wollte, dass er den Anhänger trug, war er in dieser Kammer offenbar nicht so sicher, wie sie behauptete.
»Was ist aus Lucien geworden?«
»Wissen wir nicht«, antwortete Umbra. »Er ist kurz nach dem Kampf verschwunden.«
»Und Liam? Ich will ihn sehen.«
Die Leibwächterin und Lady Sarka wechselten einen Blick. Umbra sagte langsam: »Hör zu, Jackon. Außer Corvas, Amander und uns beiden hat niemand den Angriff überlebt. Jocelyn, Ibbot Hume und die anderen Bediensteten wurden getötet, als die Ghule den Gesindeflügel stürmten.«
»Aber Liam war nicht im Gesindeflügel. Er war bei mir. Wir sind gemeinsam zum Kuppelsaal geflohen, weißt du nicht mehr?«
»Der Incubus hat ihn verbrannt.«
»Verbrannt? Ich verstehe nicht... Er hat doch auf Seth geschossen. Zweimal!«
»Er ist tot, Jackon«, sagte Umbra.
In Jackons Kopf drehte sich alles. »Nein. Nein, das glaube ich nicht.«
»Es tut mir leid«, bemerkte Lady Sarka sanft. »Ich weiß, er war dein Freund.«
Er grub die Finger in den Couchbezug und stemmte sich hoch, trotz der Schmerzen und der Proteste des Doktors. »Hat es jemand gesehen? Hat jemand gesehen, wie er gestorben ist?«
»Nein«, antwortete Umbra. »Aber niemand überlebt das Feuer eines Dämons.«
Der Gleichmut, mit dem sie das sagte, machte ihn zornig, so zornig, dass er sogar die Schmerzen vergaß. »Ich will in den Kuppelsaal! Ich will genau wissen, was passiert ist, jetzt sofort...« Als er Anstalten machte, aufzustehen, drückte Doktor Addock ihn mit sanfter Gewalt auf die Couch zurück.
»Das reicht jetzt, Junge. Willst du dich umbringen?«
Jackon versuchte, sich zu wehren, aber er war viel zu schwach. Seine Wut legte sich so plötzlich, wie sie gekommen war, und wich lähmender, alles erdrückender Traurigkeit. Tränen rannen über seine Wangen.
»Du solltest jetzt schlafen«, meinte Lady Sarka und nickte ihrem Leibarzt zu.
»Ich will nicht schlafen«, protestierte Jackon schwach, doch im gleichen Moment gab ihm der Doktor eine Spritze.
Der rötliche Nebel kehrte zurück und hüllte ihn ein, als das Morphium seine Wirkung entfaltete. Jackon weinte, bis er wenig später einschlief.
5
Umbras Auftrag
Umbra führte die Herrin und Doktor Addock durch den Schattentunnel und öffnete nach wenigen Schritten ein Tor, durch das sie in den großen Saal gelangten. Die Sonne war vor einer Stunde aufgegangen, und die Glaskuppel glühte in der Morgendämmerung. Ein roter Schein wie von geschmolzenem Stahl lag auf Wänden und Säulen.
»Der Junge schläft jetzt einige Stunden«, sagte der Doktor. »Ich sehe heute Nachmittag wieder nach ihm. Ruft mich, sollte es ihm schlechter gehen.« Mit einer Verneigung verabschiedete er sich von Lady Sarka.
Umbra blickte ihm nach, während er zum Portal ging. Der Saal bot immer noch ein Bild der Verwüstung, obwohl die Spiegelmänner inzwischen das schlimmste Chaos beseitigt hatten. Überall standen und lagen zerstörte Wandschirme und Möbelstücke herum. Rußspuren markierten die Stelle, wo das Höllenfeuer des Incubus gewütet hatte. Wenigstens die toten Ghule und die beiden Vílen waren verschwunden. Die Spiegelmänner hatten die Leichen gestern im Garten verbrannt.
Schaudernd dachte Umbra an die vorletzte Nacht. Corvas und sie hatten damit gerechnet, dass Aziel irgendwann versuchen würde, Jackon zu töten. Aber dass der Herr der Träume den Palast mit einer Horde Ghule angreifen würde, hatte sie, gelinde gesagt, überrascht. Wie, bei allen Dämonen, war es Aziel gelungen, den Madenkönig zu solch einer Wahnsinnstat zu bewegen?
Lady Sarka zog eine versiegelte Nachricht aus einer Falte ihres Gewands. »Hier. Ich möchte, dass du das Quindal bringst.«
»Was ist das?«
»Ein Brief, in dem ich ihn über den Tod seines Großneffen unterrichte und ihm mein Beileid ausspreche. Du weißt, wie wichtig mir seine Loyalität ist. Er soll nicht denken, es wäre mir gleichgültig, was mit dem Jungen passiert ist.«
»Quindal ist nicht zuhause«, sagte Umbra. »Ich war gestern dort, weil ich mich erkundigen wollte, ob seine Tochter wohlbehalten angekommen ist, aber ich habe niemanden angetroffen. Die Leute in seiner Werkstatt behaupten, er hätte die Stadt verlassen. Offenbar ist er mit seiner Tochter verreist.«
»Verreist?« Lady Sarka runzelte die Stirn. »Quindal? Das wäre das erste Mal seit zehn Jahren. Weißt du, weswegen? Und wo sie hingefahren sind?«
»Leider nicht.«
»Finde heraus, wann er zurückkommt. Ich glaube, ich spreche besser persönlich mit ihm über die Sache... Übrigens: Wellcott und Kendrick. Ich war überrascht, sie zu sehen. Seit wann sind sie hier?«
»Gestern Abend. Ich habe sie geholt, damit sie sich um das Haus kümmern, bis wir Ersatz für Jocelyn und die anderen gefunden haben. Außerdem brauchen wir jemanden, der nach Jackon sieht, wenn Doktor Addock nicht da ist.«