Als es draußen krachte, ließ sie Mutter und Kind fallen und rannte zum Fenster. Sie suchte mit den Augen den ganzen Plattenberg ab, doch es sah nirgends so aus, als wäre soeben etwas abgebrochen. Das war das Ärgerliche an den Felsstürzen: Wenn es krachte, waren die Steine immer schon unten, nie sah man einen im Augenblick, wo er sich löste.
Allerdings schien es Katharina, als sähe sie dort, wo die Tannen schief standen, ein graues Räuchlein aufsteigen. Vielleicht waren ein paar davon in den großen Chlagg gestürzt? In die Spalte, die so tief war, daß die Wildheuer die Steine nicht aufschlagen hörten, die sie hinunterwarfen?
»Was war das, Kind?« fragte die Großmutter vom Sofa her.
»Der Berg hat ein paar Tannen gefressen«, sagte Katharina.
Im Schlafgaden oben begann Kaspar zu weinen.
11
Katharina stand mit ihrem Bruder hinter dem Stall der »Bleiggen«. Der Stall stand neben dem Haus, das Haus stand am Hang, und weiter oben am Hang waren in den Wiesen Scheunen, Hecken und kleine Waldstücke zu sehen. Es hatte zu regnen aufgehört, und Kaspar hatte gesagt, er wolle zu den Säuen. Hinter dem Kuhstall befand sich ein kleiner Schweinestall mit einem eingezäunten Auslauf, der ein Stück weit den Hang hinauf reichte. Der Boden dieses Auslaufs war arg zertrampelt, vor allem im unteren Teil, wo sich eine Anzahl junger Schweine quiekend im Morast vergnügte, von dem ein stechender Geruch ausging. Die große Muttersau hielt sich ganz am oberen Ende des Pferchs auf, doch als sie die beiden Kinder zum Zaun treten sah, rannte sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Hang hinunter auf sie zu und kam erst im letzten Augenblick zum Stillstand. Katharina schrie auf und sprang zur Seite, während Kaspar vor Freude auf und ab hüpfte.
»Du große Sau!« rief er lachend, und als das Tier neugierig seine feuchte Schnauze zwischen den Brettern des Zauns herausschob, kauerte er sich nieder, riß einen Sauerampfer aus und hielt dem Schwein den Stengel an die Nasenlöcher. Dieses zuckte zusammen und trottete dann grunzend zu seinen Jungen, die es sogleich von allen Seiten bedrängten.
Katharina ärgerte sich. Wieso war sie derart erschrocken und der Kleine nicht? So wie die Sau auf sie zugerast war, hätte sie sie alle zwei überrennen können, wer weiß, ob der Hag gehalten hätte.
Jetzt kletterte Kaspar auf das unterste Brett des Zaunes und schwenkte seinen Sauerampfer.
»Komm, Sau!« krähte er, und als diese seiner Einladung nicht folgen wollte, warf er ihr die Pflanze hinein.
Die Muttersau hatte sich inzwischen seitlich in den Schlamm gelegt, und die Jungen kämpften mit schrillen Lauten um eine Zitze. Als sie nach einer Weile alle zufrieden nuckelnd eine Reihe bildeten, sagte Kaspar: »Will essen«, stieg vom Zaun hinunter und ging um den Stall herum auf den Vorplatz mit dem Brunnen.
»Grosi!« rief er laut.
Katharina, die ihm gefolgt war, ermahnte ihn, leise zu sein, vielleicht schlafe das Grosi, es sei ihm nicht so gut heute.
Kaspar blieb stehen, dann rief er ebenso laut: »Bäsi!« und ging entschlossen auf die Haustür zu. Katharina fuhr ihn an, er solle aufhören zu rufen und betrat dann mit ihm zusammen den Hausflur, wo sie ihm und sich die Schuhe auszog.
Die Großmutter stand schon unter der Küchentür und fragte die beiden, ob sie die Säue gesehen hätten.
»Es sind fünf Junge«, sagte Katharina schnell, und Kaspar sagte fast gleichzeitig: »Sie trinken!« Dann fügte er hinzu: »Will essen.«
»So, so«, sagte die Großmutter und lächelte, »dann wollen wir einmal sehen.« Sie ging den Kindern voran in die Küche. Suppe sei noch da vom Mittag, ob sie sie nochmals aufs Feuer stellen solle? Kaspar war enttäuscht. Er hatte Hunger, weil er am Mittag fast keine Suppe gegessen hatte, und er hatte fast keine Suppe gegessen, weil er Suppe nicht gern hatte.
Also dann, sagte die Großmutter, dann gebe es halt ein paar Schnitze für das kleine Leckermaul, ging zum Regal mit den Gewürzen und nahm aus einem Säcklein eine Handvoll Birnenschnitze, die sie dann auf den Tisch legte. Kaspar griff sofort mit beiden Händen danach, doch die Großmutter, als sie Katharinas entsetztes Gesicht sah, sagte, die seien auch für die Schwester, und nun griff Katharina mit beiden Händen danach.
»Nicht streiten, Kinder«, mahnte die Grosmutter, »es hat genug.«
Katharina fragte, ob sie zählen dürfe, und als die Großmutter nickte, zählte sie, indem sie jedes zweite Stück ihrem Bruder zuschob, bis elf, und dann war sie fertig. Kaspar bemerkte gleich, daß das elfte Stück bei seiner Schwester blieb, und langte danach, aber Katharina hielt ihre Hand davor und fragte die Großmutter: »Wie teilt man elf durch zwei?«
»So«, sagte die Großmutter, nahm den Birnenschnitz und aß ihn selbst.
Während die Kinder nun ihre Schnitze zu kauen begannen, setzte sie sich wieder an den Tisch, auf dem ein Haufen Kartoffeln lag und fuhr fort, diese mit einem Rüstmesser zu schälen. Die Schalen ließ sie auf den Tisch fallen, die geschälten Kartoffeln legte sie in eine Schüssel.
»Das ist für das Abendessen«, sagte sie, »am Samstag gibt es bei uns immer Kartoffelfenz.«
Katharina war nicht begeistert. Eigentlich hatte sie gehofft, es gebe einmal einen heißen Schinken oder sonst ein Stück Fleisch, wie an Neujahr, wenn sie jeweils die Großmutter besuchten. Trotzdem nickte sie, als die Großmutter sie fragte, ob sie das gerne habe. Immerhin hatte sie den Fenz mit Kartoffeln lieber als den, der nur mit Käse und Ziger gemacht wurde, vor allem den Zigergeruch fand sie widerlich.
Die Großmutter rülpste.
»Ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie, »mir ist die ganze Zeit ein wenig übel.«
»Magenwunder«, sagte Katharina.
»Was?« fragte die Großmutter.
Magenwunder, wiederholte Katharina, Magenwunder-Tropfen müsse sie schlucken.
Sie habe nur Baldrian-Tropfen, antwortete die Großmutter, und die habe sie schon genommen, und was das überhaupt für Tropfen seien.
Die bringe der Appenzeller, der im Sali der »Meur« den Leuten Pillen und Tropfen verkaufe, sagte Katharina. Das war immer ein besonderer Tag, wenn der kleine Mann mit dem großen Räf am Rücken kam, dann war das Wirtshaus voll von Menschen, die alle warteten, bis sie einzeln zum Appenzeller ins Sali durften, und an diesen Tagen waren oft mehr Frauen als Männer in der Wirtsstube, das gefiel Katharina besonders.
Ach was, sagte die Großmutter, sie brauche keine Quacksalbertropfen, und Baldrian hätte schon ihrer Mutter und ihrer Großmutter geholfen, und wie zur Bekräftigung holte sie sich noch einmal das Fläschchen aus dem Küchenschrank. Als sie die Zuckerdose öffnete, stand auf einmal Kaspar neben ihr und sagte: »Will auch eins.« Die Großmutter steckte ihm ein Stücklein zu, legte sich selbst eins auf einen Löffel, träufelte dann die Tropfen darauf und wartete, bis der Zucker in braune Klümpchen zerfiel.
»Und ich?« fragte Katharina.
»Du bist doch schon ein Schulkind«, sagte die Großmutter, »du solltest mehr Vernunft haben.«
Dann steckte sie sich den Löffel in den Mund und schluckte die Medizin mit unbewegtem Gesicht hinunter.
Katharina war empört. Nur weil sie schon allein zur Barbara gehen konnte und auch wußte, wie man Hühner und Schweine und Schnitze zählt, sollte sie keinen Zucker bekommen, und der Kleine, der nichts konnte außer ins Bett machen und einer Sau mit einem Sauerampferstengel in der Nase herumkitzeln, daß sie davonlief, der hatte dafür einen Zucker zugut. Manchmal verstand sie die Erwachsenen nicht.
»Also gut«, sagte die Großmutter, die ihre Verstimmung bemerkt hatte, »nimm dir eins«, und hielt ihr die Dose hin.
Errötend griff Katharina hinein, nahm sich ein Stück heraus und murmelte einen Dank. Es gefiel ihr nicht, daß die Großmutter erriet, was sie dachte, und der Zucker, den sie nun im Mund zergehen ließ, schien ihr weniger süß als der nach dem Mittagessen.