»Noch eins«, bettelte Kaspar, doch die Großmutter stand schon am Küchenschrank und versorgte die Dose wieder.
»Iß deine Schnitze, Chäppli«, sagte sie und rülpste dann nochmals. Deutlich war zu hören, wie ihr Magen rumpelte.
Kopfschüttelnd hielt sie die Hand an die Schürze und setzte sich wieder hin.
Die Base trat in die Küche, mit der kleinen Anna auf dem Arm.
»Wie geht’s euch, Mutter?« fragte sie.
»Bei mir rumort’s heute«, sagte die Großmutter.
Sie setze ihr einen Kräutertee auf, sagte Margret, das werde ihr guttun, und sie nehme dann auch einen, und die Kinder sicher auch, oder, Didi?
Katharina nickte, aber Kaspar stand auf und ging zur Stubentür. »Will spielen«, sagte er, »mit dem Puppenhaus.«
Mißtrauisch verfolgte ihn Katharina mit ihren Blicken.
Konnte man ihn wohl mit dem Puppenhaus allein lassen? Der war imstande und zerbrach eine Puppe oder ließ sie fallen und trat dann mit dem Fuß darauf. Prüfend schaute sie zur Großmutter, aber die hatte offenbar nichts dagegen und ordnete Katharina auch nicht zur Bewachung ab, also blieb sie bei den Frauen sitzen.
»Kannst du mir die Anna halten?« fragte die Base und reichte Katharina das Kind, ohne eine Antwort abzuwarten. Vorsichtig umfaßte Katharina das Kleine, das sich zuerst mit den Beinen gegen sie sperrte und ihrer Mutter nachblickte, die sich zur Herdtür bückte und zwei Holzstücke nachschob. Die Base sagte ihrem Kind, es müsse keine Angst haben, sie sei ja da, und das sei jetzt eben die Didi, die passe schon auf sie auf. Dann schöpfte sie mit der Kelle Wasser aus dem Schaff in eine Pfanne, holte vom Gewürzregal eine Dose mit getrockneten Kräutern herunter und streute eine Handvoll ins Wasser. Als sie die Pfanne auf den Herd stellte, zischte dieser, als sei er entrüstet über diese Zumutung, und sandte ein weißes Räuchlein nach oben.
Es rumpelte. Margret schaute zu ihrer Schwiegermutter.
Die lachte. »Das war nicht ich«, sagte sie, »das war der Plattenberg.«
Margret nahm ein Schälmesser aus der Schublade des Küchenschranks und setzte sich an den Tisch, um beim Kartoffelrüsten zu helfen. »Hoffentlich hat sie’s jetzt hinter sich«, sagte sie.
»Ja«, sagte die Großmutter, »sie ist schließlich nicht mehr die Jüngste.«
Katharina horchte auf. Was sollte das heißen, nicht mehr die Jüngste? War ihre Mutter etwa nicht jung? Jung und stark und gesund?
»Wie lang kann man Kinder haben?« fragte sie und erschrak gleichzeitig über ihre Frage. Das war wohl fast so schlimm, wie zu fragen, wie man an einem Kropf stirbt. Aber zu ihrem Erstaunen bekam sie eine richtige Antwort.
»Als der Fridolin zur Welt kam«, sagte die Großmutter, »da war ich sechsundvierzig.«
»Und dann?« fragte Katharina.
»Dann kam keins mehr«, sagte die Großmutter.
Als sie schwieg, überlegte sich Katharina, ob sie die entscheidende Frage stellen sollte, warum dann keins mehr kam, aber sie wagte es nicht. Eigentlich war es ja auch klar; wenn man einmal sechsundvierzig war, war man einfach zu alt, um noch Kinder zu bekommen, und fertig. Wahrscheinlich würde man die Anstrengung gar nicht mehr ertragen, die ganzen Schmerzen und all das Schnaufen, Schwitzen und Keuchen. Oder sollte sie doch weiterfragen? Katharina holte tief Atem und fragte dann:
»Wann kommen Johannes und Fridolin?«
»Wahrscheinlich bald«, sagte die Großmutter, »am Samstagnachmittag hören sie früher auf.«
Die kleine Anna war unzufrieden und stemmte ihre Füsse gegen Katharinas Oberschenkel. Katharina drehte sie von sich weg, so daß sie ihre Mutter sehen konnte, die ihr gegenüber neben der Großmutter und dem Kartoffelhaufen saß.
Margret winkte Anna zu, und Anna lächelte und war für ein Weilchen beruhigt. Als sie kurz darauf zu jammern begann und mit den Füßen zappelte, nahm Margret eine Kartoffel und ließ sie über den Tisch rollen. Katharina fing sie auf und rollte sie zu Margret zurück, und diese schickte sie mit den Worten »Was kommt denn da?« wieder auf denselben Weg. Anna wurde sofort still und verfolgte den Vorgang mit großen Augen.
Als die Kartoffel wieder von Katharina auf Margret zu kugelte, griff die Großmutter danach und legte sie auf den Haufen. »Mit dem Essen spielt man nicht«, sagte sie.
Margret errötete, atmete heftig auf und setzte sich ganz gerade hin. Anna fuchtelte mit den Händchen, schaute auf den Kartoffelhaufen und fing wieder zu quengeln an.
»Jetzt war sie gerade so schön ruhig«, sagte Margret.
»Kannst sie ja hinlegen«, sagte die Großmutter und rüstete ungerührt weiter. Der Haufen mit den Schalen wuchs, der Haufen mit den Kartoffeln wurde kleiner.
Von weither erklang ein Jodelruf, zweistimmig.
»Da kommen sie«, sagte die Großmutter, wollte sich erheben und fand keine Kraft dazu.
»Laß es sein«, sagte Margret, stand auf, öffnete das Fenster und rief zurück. Anna war ganz still geworden und schaute von der Mutter zur Großmutter und von der Großmutter wieder zur Mutter.
Katharina sagte, sie wolle in die Stube ans Fenster, stand auf und reichte Anna sorgfältig der Base. Diese kam ebenfalls mit, und beide öffneten ein Fenster und schauten auf den Weg hinunter. Kaspar drängte sich auch hinzu, aber als niemand zu sehen war, ging er wieder zur Puppenstube zurück.
»Die Hühner sind immer noch da«, sagte die Base, und Katharina sah, wie sie zwischen den roten und gelben Blumen herumspazierten. Dann blickte sie wieder zum Weg hinunter, auf die Stelle, wo er zum Waldstück herauskam.
»Dort sind sie!« rief sie, als sie die zwei Brüder auftauchen sah, und dann schrie Margret: »Ist das Kindlein auf der Welt?«
»Nein!« rief Johannes zurück, »aber die Kathrin hat die Wehen, und die Hebamme ist bei ihr!«
Anna, erschrocken über die laute Stimme ihrer Mutter, begann zu weinen. Katharina hörte hinter sich ein übles Geräusch und drehte sich um. Kaspar hatte ins Puppenhaus erbrochen.
12
»Und, wie heißt er?« fragte Paul. Er saß mit Johannes und Fridolin, der Großmutter, Margret und Katharina am Küchentisch um eine große Pfanne, aus der sie gemeinsam den Kartoffelfenz aßen. Hans-Kaspar war gerade hereingekommen und stand, die Jacke über der Schulter, unter der Küchentür.
»Er?« sagte er und lachte, »es ist ein Mädchen. Vor einer Stunde zur Welt gekommen.«
Ein Ausruf der Freude ging durch die Küche, und alle sprachen durcheinander.
Katharina hörte die Großmutter »Endlich!« sagen, »Geht’s ihr gut?« die Base, und Fridolin »Dem Schaaggli wär ein Bub sicher lieber gewesen.«
»Wieso denn?« Das war Pauls Stimme. »Serviertöchter kann er doch immer brauchen, besonders wenn ihm eine weggeschnappt wird!«
Großes Gelächter, Hans-Kaspar wurde rot, man lud ihn ein, sich zu setzen, Paul stand auf und holte die Flasche und die kleinen Gläser aus dem Küchenschrank, schenkte ein, und dann erhoben sie sich und stießen miteinander auf das Neugeborene an.
Katharina blieb sitzen. Als es einen Augenblick still war, weil sich alle aufatmend vom scharfen Getränk erholen mußten, fragte sie:
»Und wie heißt es?«
Hans-Kaspar stutzte. Davon habe gar niemand gesprochen, sagte er, die seien froh gewesen, daß es überhaupt kam, es müsse schwer gewesen sei, aber der Kathrin gehe es gut, die Anna habe ihr schon einen großen Krug Tee gebracht.
»Haben die Eltern nie davon geredet, wie das Kind heißen soll?« fragte die Großmutter. Katharina merkte, daß die Frage an sie ging, denn alle Köpfe drehten sich zu ihr. Sie versuchte sich zu erinnern. Einmal, kam ihr in den Sinn, hatte der Vater gesagt, wenn es ein Bub werde, solle er Samuel heißen. Aber ein Mädchenname war nie genannt worden.
Sie schüttelte den Kopf. Das mit Samuel ging niemand etwas an, es war ja jetzt ein Mädchen, und heimlich freute sich Katharina darüber.