»Was tust du da?«, murmelte sie und hatte das Gefühl, die Frage führte nicht im Entferntesten zu dem, was sie eigentlich wissen wollte. Der Junge antwortete auch gar nicht. Er schob Arus’ Weste unter ihren Kopf, fast als hätte das nichts mit ihr zu tun. Sein dunkles Haar war zu einem Knoten zurückgebunden und auf der Stirn, dicht am Haaransatz, sah Hel zwei ineinandergreifende Halbkreise. Als er merkte, dass ihr Blick an dem Zeichen hing, erlosch der Felssplitter hinter ihnen.
Dunkelheit fiel über sie. Der Junge wich zurück, und obwohl Hel sah, wie sein Licht sich fortbewegte, lauschte sie vergebens nach Schritten.
»He! Ich rede mit dir!«
Dann war er weg, ein glimmender Stern zwischen Sternen.
Der Händler
Hel war so aufgewühlt und besorgt, dass sie es für ausgeschlossen gehalten hatte, wieder einzuschlafen – und dann wachte sie doch auf, verwirrt über den Tag, der am Himmel heraufkroch, und den kalten Schweiß an ihrem Körper. Wie hatte sie bloß wegnicken können? Vielleicht hatte der Fremde sie ja mit einem Zauber belegt ... denn dass er kein gewöhnlicher Sklavenhändler war, stand außer Frage. Wer Sand und Felsen zum Leuchten brachte, verfügte über noch ganz andere Fähigkeiten.
Vorsichtig, um ihre Rippen zu schonen, stützte Hel sich auf den Arm und blickte sich um. Die Höhle war leer. Der Wasserschlauch fehlte, doch das Paket mit dem Essen lag noch da. Hel spürte jetzt, wie hungrig sie war, und zog das Bündel ein wenig näher. Vorsichtig bohrte sie ihren Finger in die runden Dinger. Der Blättermantel gab nach. Sie zupfte ein Stück ab und ein weiches goldbraunes Etwas kam zum Vorschein. Auch wenn es weniger köstlich ausgesehen hätte, wäre Hel nicht lange am Überlegen gewesen. Sie nahm einen Bissen und ihre Zähne versanken in der leicht klebrigen Masse.
Sie verschlang den Kloß in wenigen Bissen und nahm gleich einen nächsten. Als sie ihn zur Hälfte gegessen hatte, wurde ihr schlagartig übel. Sie drückte sich den Handrücken gegen die rissigen Lippen. Kurz fürchtete sie, die Speisen seien vergiftet, aber das war natürlich unsinnig. Sie hatte nur zu schnell gegessen und ihr Magen war keine Nahrung mehr gewohnt.
Seufzend sank sie in sich zusammen. Sie musste nur ruhig liegen ... hoffentlich kam es ihr nicht hoch.
Nach einer Weile fühlte sie sich so weit, es mit dem Aufstehen zu versuchen. Die Übelkeit war halbwegs vergangen und das Essen flößte ihr neue Kräfte ein. Noch immer ein wenig klamm schlüpfte sie in Arus’ Weste. Sie reichte ihr fast bis zu den Kniekehlen. Dann hüllte sie sich in den Umhang. Tapsig kletterte sie aus der Höhle.
Es wurde zusehends heller. Ein rosafarbener Streifen säumte den östlichen Horizont und verlieh den Dünen Umrisse. Hel kletterte das Geröll empor, bis sie einen guten Blick auf das Land hatte. Der Wind spielte kitzelnd mit den Haarspitzen in ihrem Nacken und Hel zog sich den Umhang fester um die Schultern.
Im Norden wuchsen pilzförmige Felsbrocken aus der Erde. Im Westen lagen die Kauenden Klippen. Hel versuchte, sich zu orientieren. Die Schwalbe war direkt vor der Grenze zum Alten Reich abgestürzt, etwa eine Flugwoche von Har’punaptra entfernt. Mit bloßem Auge schätzte Hel, dass mindestens zwei Flugtage zwischen ihr und den Kauenden Klippen lagen. Zwei Flugtage ... aber zu Fuß war der Weg bei Weitem länger. War sie denn so lange bewusstlos gewesen? Das war doch unmöglich. Wie hatte der Fremde sie überhaupt so weit tragen können? Doch egal wie sie hergekommen war, was noch vor ihr lag, war wichtiger. Wenn sie sich an die Gebirge hielt, würde sie irgendwann auf die Zwergenstadt stoßen. Irgendwann ... Hel wusste nicht, wie schnell man zu Fuß war, mit der Geschwindigkeit eines Schwebeschiffs war es gewiss nicht zu vergleichen.
Sie atmete durch, so gut es mit ihrer gebrochenen Rippe ging, und rang die Panik nieder. Selbst wenn sie den Wasserschlauch und das Essen stahl, würde der Proviant nicht bis Har’punaptra reichen. Es gab zwar die Windigen Städte dazwischen; aber es war allbekannt, dass die Hälfte der Wüstenleute Räuber, Schmuggler oder Sklavenhändler waren, deshalb versteckten sie sich ja in dieser unwirtlichen Gegend und zogen ihre Stadtlager ebenso schnell hoch, wie sie sie im Kampf gegen Recht und Ordnung wieder verloren. Nur in äußersten Notfällen hatte Gharra die Windigen Städte angesteuert, und das auch nur, wenn sie genug Lirium für eine ausreichende Verteidigung gehabt hatten. Allein und unbewaffnet dort aufzukreuzen, war wahrscheinlich dümmer, als ohne Wasser in die Wüste zu laufen.
Da war es besser, vorerst bei dem Händler zu bleiben ... Bei der erstbesten Gelegenheit würde sie nach Har’punaptra fliehen. Und von dort aus eine Möglichkeit finden, nach Aradon zu gelangen und der Magierschaft zu berichten, was geschehen war.
Hel hatte Lust, sich hinzusetzen. Sie wollte zu Boden sinken und auf der Stelle sterben. Wie sollte sie das alles durchstehen? Und wofür ... sie war allein. Ihr Blick verschwamm in einem tröstlichen Tränenschleier. Sie stieß mit der Fußspitze nach den Steinchen und murmelte Flüche oder Gebete vor sich hin, genau wusste sie es selbst nicht. Dass sie überhaupt noch am Leben war und darüber nachdenken musste, machte das Schicksal der Schwalbe nur schrecklicher.
Aber wenigstens konnte sie herausfinden, warum die Schwalbe abgestürzt war. Wer daran Schuld trug ... denn irgendwer musste Schuld haben. Sie sehnte sich plötzlich nach Rache oder wenigstens irgendeiner Aufgabe, um ihre Zukunft mit der abgerissenen Vergangenheit zu verknüpfen.
Benommen ging sie an den zerklüfteten Felsen weiter, ohne Ziel, nur auf der Flucht vor dem letzten Schritt und den Gedanken, die ihr folgten. Die Sonne ging auf. Kalte Glut fraß den grauen Himmel, dasselbe Schauspiel, das Hel so oft vom Mastkorb aus beobachtet hatte. Sie spürte förmlich, wie die Kühle der Nacht in ihre Felsritzen zurückkroch. Bald würde die Hitze kommen, die Welt unter einem flimmernden Dunst schwitzen und alles Leben nach Luft japsen. Kein himmlischer Fahrtwind würde Hel Linderung verschaffen; sie klebte hier unten auf dem Land wie eine Fliege, gefangen im großen Suppenteller.
Am Rand der Klippen blieb Hel stehen. Zwischen vernarbtem Gestein nicht weit unter ihr entdeckte sie den Händler.
Er stand mit geschlossenen Augen da, die Handflächen nach oben gerichtet, und regte sich nicht. Die Haare fielen ihm in verstaubten schwarzen Strähnen auf die Schultern. Man hätte sein Gesicht angenehm, wenn nicht gar hübsch nennen können, hätte nicht eine stille Entschlossenheit seine Züge verhärtet. Es war, als wollte eine innere Macht die äußere Jugendlichkeit leugnen. Hel spürte, dass sie den Atem anhielt. Leise, als müsste sie sie stehlen, holte sie Luft. Er schien sie nicht zu bemerken – natürlich nicht -, also beobachtete sie ihn weiter.
Seine Kleidung hatte nichts mit den bestickten Tuniken gemein, die man in dieser Gegend trug. Überhaupt war sie fremdartig geschnitten. Seine Weste reichte ihm fast bis zu den Knien, hatte einen gestärkten Kragen und Schulterteile aus Leder. Darunter trug er ein Wams mit weiten Ärmeln, die an den Unterarmen geschnürt wurden. Ausnahmslos war alles dunkelblau und schwarz eingefärbt.
Plötzlich senkte er den Kopf und kreuzte die Arme, sodass seine Hände an den Schultern lagen. Es sah aus, als würde er beten. Er ging auf die Knie. Nach einer Weile band er den Wasserschlauch von seinem Gürtel und drückte die Öffnung auf die Erde. Eine kleine Lache entstand. Hel war fassungslos. Hatte der Kerl den Verstand verloren? Das kostbare Wasser! Sie war kurz davor einzuschreiten, als sie erkannte, dass der Schlauch sich füllte.
Fassungslos starrte sie hinab. Tatsächlich, der Schlauch wurde immer praller. Das Wasser strömte aus dem trockenen Boden in den Schlauch.