Der Junge verschloss ihn, als er voll war, und hängte ihn an seinen Gürtel zurück. Dann band er sich die Haare sorgfältig zu einem Knoten und machte eine rasche Handbewegung, wobei er die Stirn und seine Schultern berührte und die Fingerkuppen aneinanderlegte. Als er die Augen wieder öffnete, drehte er sich zu Hel um und sah sie direkt an.
Hel erstarrte. Es war längst zu spät, sich zu ducken oder so zu tun, als hätte sie ihn nicht beobachtet. Ruhig kam er auf sie zu und war erschreckend rasch die Felsen emporgestiegen.
»Geht es dir besser?«
Hel konnte im ersten Moment nicht glauben, dass die Stimme zu ihm gehörte, denn sie klang dunkel und dicht wie Sturmwolken, viel älter als sein Äußeres.
»Hier. Trink.«
Zögernd nahm sie den Lederschlauch an. »Wie hast du das gemacht? Mit dem Wasser?«
»Was mit dem Wasser?«
»Es ist aus dem Boden gekommen.«
»Ja. Aus einer Quelle.«
Hel blickte auf die Stelle hinab, wo er gekniet hatte. Nichts war da. Nicht einmal ein feuchter Fleck. Und schon gar keine Quelle. »Das stimmt nicht«, sagte sie, und ihre eigenen Worte ließen sie frösteln.
Er sah sie nur an. In seinen Augen flossen kühle Lichter in Grau und Blau, wie der Himmel, wo nächtlicher Samt zu Seide wurde.
»Hast du noch Fieber?« Er trat mit ausgestreckter Hand näher und sah sie fragend an, ehe er ihre Stirn berührte. Hel wollte sich nicht anfassen lassen, wagte aber auch nicht, zurückzuweichen und ihre Angst so offen zu zeigen. Die Berührung währte nur einen Augenblick. »Du ... bist kaum mehr heiß. Heilst du immer so schnell?«
Hel wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und sagte gar nichts. Stattdessen öffnete sie den Wasserschlauch – schnupperte unauffällig daran – und trank. Sie bemerkte keinen besonderen Geschmack, das Wasser war eine Wohltat. Schließlich machte sie den Schlauch wieder zu und gab ihn zurück.
»Was für ein Händler bist du?«
Er hängte den Schlauch an seinen Gürtel zurück. »Ich habe ein Geschäft in einer fernen Stadt abzuschließen.«
»In Har’punaptra?«
Zum ersten Mal schien er unsicher. »Woher weißt du das?« Hel sah ihn groß an und spürte, wie ein Lachen in ihr aufstieg. »Du kommst wohl von ganz weit her, was? Es würde mich wundern, wenn ein Händler nicht auf dem Weg nach Har’punaptra wäre.«
»Du warst schon dort?«, fragte er misstrauisch.
»Machst du Witze? Natürlich war ich schon dort. Du etwa nicht?«
Sein Schweigen war Antwort genug. Hel legte leicht den Kopf schief, sodass ihre Haare über ihr linkes Auge fielen. »Also, was für ein Händler bist du?«
Er warf einen Blick zum östlichen Horizont. »Die Sonne ist neu geboren. Wir müssen aufbrechen.« Er ging an ihr vorbei.
»Neu geboren?«, murmelte Hel. Wo auch immer er herkam, dort schienen weit blumigere Beschreibungen gebräuchlich zu sein. Als er ein paar Felsen hinabgeklettert war, drehte er sich nach ihr um und streckte die Hand aus. »Komm. Ich helfe dir.«
Zögernd kam Hel näher. »Bist du ein Sklavenhändler oder nicht?«
Ganz kurz schien ein Lächeln in seinen Mundwinkeln aufzutauchen – vielleicht irrte sie sich aber auch im Morgenlicht. »Wieso? Ich dachte, das sei verboten.«
»Vieles ist verboten, das trotzdem viele tun.«
Als er Hels Hände nahm und ihr die Felsen hinabhalf, eroberte der Ernst seine Züge zurück. »Dass die Gesetze missachtet werden, wurde mir bereits erzählt.«
Sie sah ihn verwirrt an. Wem musste das denn ›erzählt‹ werden – das wusste doch jedes Kind. Schweigend gingen sie den Weg zur Höhle zurück, der Junge ein paar Schritte voraus, wie um Hel zu erlauben, dass sie ihn im Auge behielt.
In den Schatten der Höhle trank er aus dem Schlauch, wickelte das restliche Essen wieder in das Tuch und schob es in eine Tasche unter seiner Weste.
»Frierst du, willst du den Umhang anbehalten?«, fragte er beiläufig.
Hel schluckte. Bestimmt wollte er ihn wieder. Sie nahm ihn ab und zog Arus’ Weste enger, ehe sie ihm den Umhang hinhielt. Der Junge nahm ihn mit einem Nicken und warf ihn sofort über – auch die Kapuze setzte er auf. Die geheimnisvolle Tätowierung auf seiner Stirn verschwand.
»Du siehst schon viel besser aus. Wie fühlst du dich?«
Tatsächlich ging es Hel nicht annähernd so schlecht wie letztes Mal, als sie bei Bewusstsein gewesen war. Außer dem Schmerz in ihrer Rippe und einem leichten Schwindel, der auch von der zweiten Sicht kommen konnte, fühlte sie sich fast normal. »Besser ... Wie lange habe ich geschlafen?«
»Eine Stunde«, sagte er. Hel runzelte überrascht die Stirn. Sie fühlte sich eher, als hätte sie eine lange, erfrischende Nacht hinter sich. Oder zwei.
Der Junge musterte sie einen Moment lang aufmerksam; dann verließ er die Höhle. Hel kletterte ihm nach.
»Wenn du kein Sklavenhändler bist ... dann hast du mich einfach so gerettet?«
»Ja, ich weiß«, murmelte er.
»Dann ... danke!«
Er blieb stehen und blickte sie über die Schulter an. »Du warst nicht tot.«
»Aber ich wäre gestorben, wenn du mich nicht – wenn du nicht gewesen wärst.«
»Wirklich?« Es schien eine ehrliche Frage zu sein. Hel sah ihn irritiert an. Er wandte sich ab und ging weiter, blieb aber kurz darauf wieder stehen. »Wer bist du?«
Der Wind wischte ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie stand ihm im gleißenden Licht gegenüber, und er verbarg sich unter seiner Kapuze, aber trotzdem war er es, der fragte.
»Ich heiße Hel.«
»Hel?«, wiederholte er.
»Also, ja. Einfach Hel.«
Sand knirschte unter seinen Schuhen, als er einen kleinen Schritt zurücktrat. Dann machte er ein rasches Zeichen mit den Fingern.
»Äh ... und wer bist du?«
»Das Licht kann auch in Schatten lesen.« Damit drehte sich der Junge um und ging weiter. Nach einem Moment lief sie ihm nach. Er kletterte mehrere Felsblöcke hinab und durchquerte einen Garten aus verzerrten Formen und Figuren, an denen ein keuchender Wind kratzte. Hel trat vorsichtig auf dem Boden auf, denn sie sah überall Lirium. Die Gebirge hier leuchteten vor Leben. Als der Junge geradewegs auf mehrere Liriumadern zusteuerte, rief sie: »Geh da lieber nicht hin!« Sie räusperte sich. »Du trägst aber ein Feenlicht, oder?«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Wieso?«
»Zum Schutz natürlich ... ein Feenlicht, damit das Lebendige Land dich nicht angreifen kann?«
Er schüttelte knapp den Kopf, als würde er nicht verstehen.
»Ähm, ich glaube, nach Har’punaptra geht es in diese Richtung.« Sie wies nach rechts. Auch hier sah sie Lirium durch den Sand funkeln, doch wenn sie aufpasste, konnte sie ihn daran vorbeiführen.
»Dann bist du mein Wegführer nach Har’punaptra, Hel.«
Sie taumelte versehentlich zur Seite, hielt sich aber an einem Steinbrocken fest. So erholt war sie also doch noch nicht. Umso besser musste sie aufpassen. Ein falscher Schritt, und das Lebendige Land verschlang sie beide. Wie konnte er ohne Feenlicht unterwegs sein?
»Du bist noch schwach«, bemerkte er. »Aber du musst nicht laufen.«
Hels Antwort blieb ihr in der Kehle stecken. Selbst für einen Schrei war keine Zeit. Hinter dem Jungen türmte sich eine funkelnde Sandmasse auf.
Durch die Wüste
Hel war wie gelähmt. Sie wollte den Jungen warnen, wollte hinter ihn deuten, aber es war zu spät.
Im Zuge eines Herzschlags hatte der lebendige Sand sich zusammengeballt, warf Hufe in die Luft und peitschte mit wehenden Schweifen über den Kopf des Jungen. Er streckte einen Arm nach Hel aus, ohne die Gefahr zu bemerken. Ruhig öffnete er die Hand.
»Das Land wird dich tragen«, murmelte er unverständlich. Mit einem Schritt war er bei ihr. Oder war sie auf ihn zugekommen? Sie erinnerte sich nicht, konnte den Blick nicht losreißen von dem Etwas, das sich vor ihr aufbäumte. Kein Sand. Kein Lebewesen. Magie.